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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Trauer, die meine Brust durchfluten. Mein Gesicht erstarrt zur Maske einer Frau, die weint, eine Hälfte verzieht sich zu einem Wehgeschrei, die andere erlaubt es nicht. Es fließen keine Tränen. Mein Kopf zuckt zurück vor der Seite des Kirchenschiffs, die gerade das größere Interesse an meinem Leid hat, und bietet es der jeweils anderen dar. Nun setzt er ein. Der langsame Marsch der verbliebenen Hegartys. Ich weiß nicht, was für eine Wunde wir ihnen allen zeigen, außer der Wunde einer Familie. Denn in genau diesem Augenblick stelle ich fest, dass Teil einer Familie zu sein die qualvollste Art ist, am Leben zu sein.
    Tom dreht sich um, und als er mein Gesicht sieht, stockt er. Er reicht mir die Hand und geleitet mich zu dem Sitz vor ihm, und die Mädchen folgen mir zu beiden Seiten.
    »Alles in Ordnung?«, fragt er und umfasst meine Hand, während Emily sich zu mir wendet und sich an mich klammert – oder, um die Wahrheit zu sagen, unter dem Vorwand, die bezogenen Knöpfe meines guten Beerdigungsmantels zu bewundern (oder vielleicht auch, um sie zu trösten), meine Brüste streichelt.
    »Lass deine Mutter in Ruhe«, sagt Tom.
    In der Tat. In diesen letzten paar Tagen bin ich so oft berührt worden. Ich schlage die Beine übereinander im Gedenken an den Sex, den wir in der Nacht der Totenwache hatten. Oder den er hatte. Und warte darauf, dass die Messe beginnt. Alle wollen etwas von mir. Und es hat nichts damit zu tun, was ich vielleicht will oder was mein Körper vielleicht will, was immer das sein mag – weiß Gott, es ist lange her, dass ich es gewusst habe. Da sitze ich nun auf einer Kirchenbank in meinem eigenen Fleisch: begrapscht, benutzt, geliebt und sehr einsam.
    Eigentlich weiß ich sehr wohl, was ich will. Ich will, dass derjenige, der in Mammys Küche seine Hand auf mein Kreuz gelegt hat, sich erklärt. Dass er noch einmal sagt, dass alles gut wird. Denn ich hatte die liebende Berührung eines Menschen verspürt und war von ihr – und zwar vollkommen – beruhigt worden, ehe ich mich umwandte und sah, dass da gar niemand war.
    Außerdem will ich Rowan. Ich sehne mich nach ihm, nicht mit Lippen oder Händen, sondern mit meinem ganzen Gesicht. Meine Haut will ihn. Ich will ihn liebkosen und fühlen, wie sein leichtes Haar mein Kinn kitzelt. Mit den Wimpern will ich seine Wange streifen.
    Die Sehnsüchte, die mich da einfangen, bleiben mir bei allem, was jetzt folgt, gegenwärtig: Messe, dummer alter Priester und Ernests kurze Ansprache vom Altar.
    Liam sei an materiellen Dingen nie interessiert gewesen, sagt Ernest. Er habe einen ausgeprägten Sinn für Humor gehabt.
    »Mein Bruder hatte einen regelrechten Gerechtigkeitszorn«, sagt er, ohne zu erwähnen, wie dieser sich nach Alkoholgenuss in Fußtritten gegen Busse äußerte. Aber die Sache verläuft recht ordentlich. Die Worte werden recht ordentlich dahingesprochen, während hinter mir, vom hinteren Ende der Kirche, mein großes und bald enthülltes Geheimnis mit breitem Südlondoner Akzent »Hallo! Hallo!« brüllt.
    Wir lassen das ganze Ritual über uns ergehen. Wir folgen dem Sarg durch den Mittelgang hinaus ins Freie, und sobald wir an die frische Luft treten, sage ich es Tom: »Erinnerst du dich noch an die Frau? Die Frau, die beim letzten oder vorletzten Mal mit ihm mitgekommen war?«
    »Was für eine Frau?«
    »Erinnerst du dich nicht mehr an die Frau, die partout nichts essen wollte und die dieses saure Gesicht gemacht hat, als wir die Handwerker dahatten?«
    »Ich weiß nicht«, sagt er.
    »Er war garstig zu ihr.«
    »Ach, die.«
    »Sie war schwanger. Damals war sie schwanger.«
    »Von ihm?«
    »Oh, daran besteht gar kein Zweifel«, sage ich. »Es ist Liams Kind. Ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
    Die Hegartys werden im Portal festgehalten und schütteln fünfhundert Leuten die Hand. Ich kenne nicht einmal die Hälfte davon, und es ist mir auch ganz einerlei. Ich warte darauf, dass sich Sarah durch die Menge schiebt, damit ich sie beiseitenehmen und mir überlegen kann, wie wir vorgehen sollen.
    »Mein aufrichtiges Beileid.«
    »Danke.«
    »Mein Beileid.«
    »Ein schwerer Verlust.«
    Alle entschuldigen sich dafür, dass jemand, den man liebt, tot ist, während die Welt von Menschen wimmelt, die man nicht liebt.
    »Ich kannte ihn von der Schule her«, sagt ein Mann zu mir, der sich verwandelt, noch während die Worte fallen, aus diesem Fremden mittleren Alters in den jungen Willow mit der Wodka-Flasche und dem schönen älteren
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