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Eden

Titel: Eden
Autoren: Tony Mochinski
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VORWORT
     
    Das erste Mal begegnete ich Tommy Arlin bei einem Open-Mic-Abend in Raleigh, North Carolina. Es war eine monatliche Veranstaltung namens The Cypher . Ursprünglich war ich dort aufgetreten, um Stress abzubauen und Frauen kennenzulernen. Was die Frauen angeht, war ich nicht allzu erfolgreich. Um genau zu sein, lernte ich exakt eine Lesbe kennen und ein unglaublich scharfes Gerät, das nach einer Lesung mit ihrem Freund im Schlepptau auftauchte, um mir zu sagen, wie gut ihr mein Auftritt gefallen hatte. (Ihrem Freund auch.) Leider kam mir meine angeborene Schüchternheit dabei in die Quere. (Die Gegenwart besagten Freundes war auch nicht gerade hilfreich.) Kurz und gut, ich lernte keine Frauen kennen, wodurch sich mein Stress eher noch verschlimmerte, aber wenigstens traf ich den Autor dieses Buches.
    The Cypher war übrigens keine Allerweltslesung. Sie fand zum einen nicht in einer großen Buchhandlung statt, und zum anderen traten auch keine Cappuccino schlürfenden, Baskenmütze tragenden Möchtegern-Beatniks um die vierzig aus der Vorstadt auf, die versuchten, genau so nicht auszusehen. The Cypher hatte etwas ganz Spezielles, etwas, von dem ich nicht weiß, ob ich es in Worte fassen kann. Eine Aura . Irgendetwas ging immer ab.
    Der Abend, um den es hier geht, war einer der denkwürdigeren. Shirlette Ammons ging auf die Bühne und mischte den Laden auf, Paradox servierte den Leuten so schwere Kost, dass sie sich am Kopf kratzten, und ich brachte meine Nummer über den fiktiven Neo-Beat-Poeten und Gauner Stanislaus Kaerevsky und seinen ständigen Begleiter bei Poesie und Missetat, Incognito Willy.
    Und dann trat dieser Typ ans Mikro. Er sah aus wie ein Stadtstreicher. Was daran lag, dass er einer war. Er griff in die Tasche seines langen Regenmantels. Draußen war eine schwüle Sommernacht. Ich habe keine Ahnung, warum er einen langen Regenmantel trug. Vielleicht war er im Nebenberuf Exhibitionist. Jedenfalls griff er in die Tasche seines fleckigen, müffelnden Regenmantels und zog einen eselsohrigen Stoß vergilbten Papiers heraus, den er langsam aufklappte und glattstrich. »Man nennt mich Dirtbag Brown«, verkündete er. Das war nicht Tommy Arlin. Er nahm einen Schluck aus einer Flasche in einer Packpapiertüte, die er mit auf die Bühne genommen hatte, und während er die Hälfte davon auf das Mikrofon sabberte und einen Schlag riskierte – wieso er keinen bekam, ist mir ein Rätsel -, beschimpfte er uns im Publikum laut und ausdauernd.
    Er deklarierte uns als »Schlampenärsche« und »Scheißbleichfressen«, um nur zwei Beleidigungen zu zitieren. Mindestens zwei oder drei Frauen standen auf und gingen, als Dirtbag Brown sie angierte und ein paar zotige Anmachsprüche in ihre Richtung grunzte, und ein paar Studenten machten eine große Schau daraus, wie ihre Kumpels sie festhalten mussten, damit sie nicht auf die Bühne stürmten und ihn verprügelten.
    Wer oder was Dirtbag Brown auch immer war, an ihm war nichts gespielt. Später erfuhr ich, dass sein Vorname Euripides war. Ohne Scheiß. Euripides! Nachdem er so ziemlich alle anwesenden Rassen, Religionen, sexuellen Orientierungen und Hautfarben beleidigt hatte, schüttete er etwas von seinem Fusel auf die Bühne – »Für verstorbene Kumpel« – und stolperte wieder herunter, rüber in eine Ecke, in der er die Hosen runterließ und ausgiebig an die Wand pisste. Er sorgte für blankes Entsetzen, und als er abzog, teilte sich die Menge vor ihm wie das Rote Meer vor Moses.
    »Dieses Gedicht ist über etwas, das mir sehr viel bedeutet, eines meiner liebsten Dinge auf der Welt.« In der schockierten Stille war jemand anderes ans Mikro getreten. »Es heißt Die Muschi .« Das war Tommy Arlin.
    Falls es ein absolutes Gegenteil von Dirtbag Brown geben konnte, dann war er es. Arlin war groß, gepflegt, offensichtlich gesund und sicher nicht obdachlos. Später sollte ich erfahren, dass er sehr wohl obdachlos war, aber absichtlich. Er steckte gerade in seiner »Weltenbummler«-Phase. Jedenfalls hatte Arlin sich im Griff, und in jener Nacht hat er gerockt . Er stand da oben und ließ sich über die Vulva aus – »Das M, das U, S, C, H, ja! , und I, befrag’ es nie, die Muschi, sie beflügelt Fantasie« – aber auf eine humorige, unbedrohliche Weise, die niemanden störte. Es dauerte nicht lange, bis die Menge laut lachte und ihn anfeuerte, und einige der Damen schienen vor Begeisterung der Ohnmacht nahe. Als Arlin fertig war und das Publikum lachte und
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