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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Lieblingssong zu singen:

    Let us pause in life’s pleasures
And count its many tears,
While we all sup sorrow with the poor;
There’s a song that will linger
For ever in our ears;
Oh, hard times come again no more.
    Ach ja, natürlich. Dieses blödsinnige Liedchen. Ich muss schwer gegen meine Augenlider ankämpfen, so plötzlich und scharf kommen mir die Tränen.

    Tis the song, the sigh of the weary,
Hard times, hard times,
Come again no more;
Many days you have lingered
Around my cabin door,
Oh, hard times come again no more.
    Beim Refrain bildet sich ein holpriger Konsens heraus, doch wie durch ein Wunder lassen sie sie die Strophe allein singen: meine irritierende kleine Schwester, die mit unschuldigen Augen zur Saaldecke starrt, während sie jede Note einzeln aufgreift und sie zärtlich wieder absetzt.

    While we seek mirth and beauty
And music light and gay,
There are frail forms fainting at the door;
Though their voices are silent,
Their pleading looks will say
Oh, hard times come again no more.
    Im Saal bleibt kein Auge trocken. Als Rowan auf Mossies Knie sieht, wie seine Mutter sich die Tränen abwischt, wird er ungehalten.
    »Halt die Klappe«, sagt er plötzlich. Dann lauter: »Haaalt die Klaaappe!«, in seinem süßen englischen Akzent, und alles lacht. Ich bin noch nie auf einem fröhlicheren Leichenbegängnis gewesen.
    Ich schiebe meinen Stuhl zurück und gehe hinaus, um eine Zigarette zu suchen.
    Es ist viele Jahre her, dass ich geraucht habe. Nach Daddys Tod haben wir alle auf irgendeine Weise das Rauchen aufgegeben, daher muss ich eine der Nachbarinnen mit dieser sonderbar intimen Bitte behelligen.
    »Ich könnte nicht vielleicht eine von denen abbekommen? Würde es Ihnen etwas ausmachen?«
    »Nur zu. Nur zu.«
    Ich setze mich ins Foyer und rauche. Die Zigarette schmeckt wie die allererste Zigarette, die ich je geraucht habe, damals, 1974, als ich im Durchgang zum Garten auf Liams Matratze saß.

38
    An dem Tag, als sie hört, dass Lambert Nugent gestorben ist, bestellt Ada in Bewley’s Oriental Café bei der Bedienung eine Tasse Kaffee – durchaus nichts Ausgefallenes, nur einen Milchkaffee und eine Vanilleschnitte -, und als ihre Bestellung endlich kommt, streift sie ihre Handschuhe mit demselben präzisen Ruck ab, der Nugent schon so viele Jahre zuvor aufgefallen war. Er ist also tot. Sie schlürft ihren Kaffee und schneidet die Vanilleschnitte in kleine Stücke, die sie sich eines nach dem anderen in den Mund schiebt, bis alles restlos aufgegessen ist.
    Ada macht sich Sorgen um die Miete – obwohl sie gar keine Veranlassung dazu hat, denn wegen der Miete hat sie sich schon vor Jahren beraten lassen. Irgendein anderer Mann wird kommen und sie entgegennehmen – ein Mann, aus dem sie sich weder so noch so etwas macht, und es wird dasselbe Geld sein und dasselbe kleine Haus und dasselbe Leben, das sie in seinem Innern führt. Und dennoch hat sie das Gefühl, dass das Haus sich losgerissen hat, dass die Ziegelsteine und die Dachschiefer und die granitenen Fensterstürze dazu bestimmt sind, auf ein stilles graues Meer hinauszusegeln.
    Es war vorbei. Was immer sich zwischen ihnen abgespielt hatte.
    Der alte Nolly May.
    Oder wie sie manchmal sogar sagten, Nolly May Tangerine – nach dem Noli me tangere aus der Bibel.
    Und warum nicht? Warum durfte er nicht berührt werden?
    »Ist er nicht zum Schießen?«, wie sie von Lamb Nugent zu sagen pflegte, nach dieser oder jener Bemerkung, einer Andeutung über ihre Verschwendungssucht beim Fleischer oder die Notwendigkeit des Weihnachtsfests. »Er ist ganz Herz«, pflegte sie zu sagen, womit sie meinte, dass sie an dem Tag, an dem er starb, in Bewley’s in aller Gemütsruhe eine Vanilleschnitte bestellen und so richtig genießen würde.
    Ada ist siebzig Jahre alt, was bei einer gewissen Sorte Frau überhaupt kein Alter ist. Sie ist dauernd auf Trab, und vielleicht hat sie noch zwanzig Jahre vor sich (obwohl sie keine zwanzig Jahre mehr vor sich hat). Ada rechnet nicht. Mit siebzig liegt sie wie wir anderen auch im Bett und denkt an die Wärme und Beschaffenheit der Hände des letzten Arztes. Ihre eigenen Hände, nun, da sie sie aus den schwarzen Lederhandschuhen zieht, sind mager und unruhig: ein Gewirr aus Sehnen, Knorpeln und Knochen, wie die Takelage eines Schiffs. Wer braucht schon einen Arzt, wenn der eigene Körper damit beschäftigt ist, aus der Person auszutreten und seine Funktionen zur Schau zu stellen? Ada mag ihre Hände, ja
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