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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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wie ich hoffte, sie würde ihm zu etwas Ruhe verhelfen.
    Jetzt ist sie älter, obwohl sie noch dieselbe flackernde Gekränktheit ausstrahlt, jetzt, da die bunten Farben der Kirchenfenster über ihre Brust hinweghuschen und an ihren Augenwinkeln zerren. Doch als sie bei mir anlangt, hat der Spuk ein Ende. Sie legt den Kopf schief und ist ganz voll von der Geschichte, die sie mir zu erzählen hat. Sie drängt geradezu ans Licht, diese Geschichte. Keinesfalls ist es ihre Schuld.
    Und ich kann mich immer noch nicht an ihren Namen erinnern.
    »Hat Kitty dich erreicht?«, frage ich. »Ein weiter Weg.«
    Und plötzlich komme ich mir sehr irisch vor, wie ich mit beiden Händen ihre Hand ergreife, um ihr dafür zu danken, dass sie die weite Reise auf sich genommen hat, sie willkommen zu heißen und ihr Zeit zum Trauern zu geben.
    »Kommst du hinterher zum Hotel? Weißt du, wo es ist? Soll dich jemand mitnehmen?«
    »Ich bin eben erst gekommen«, sagt sie. »Ich bin eben erst angekommen.«
    »Du hast davon gehört?«, frage ich und meine seinen Selbstmord, und sie nickt, als gehöre das nicht so recht zur Sache.
    »Das ist Rowan«, sagt sie und greift hinter sich, um hinter ihren eleganten Beinen ein Kind hervorzuziehen, und zum ersten Mal blicke ich auf den Sohn meines Bruders hinab.
    Er hat einen merkwürdig großen Kopf und einen vorgebeugten kleinen Körper, und nach einer Sekunde geht mir der Grund dafür auf: Er ist erst drei Jahre alt. Da er erst drei – bald vier – Jahre alt ist, balanciert sein Kopf wunderbar auf dem Stiel seines Halses, während sein Gesicht sich nach oben wendet, um mich mit den blauen Augen meines Bruders zu mustern, doch als seine Mutter ihn auffordert: »Sag Guten Tag«, krümmt er sich wieder hinter die Schöße ihres Trenchcoats. Er lugt dahinter hervor und taucht erneut weg, und ich begreife, dass ich mit diesem Kind Verstecken spielen soll. Ich soll mich ducken und zu beiden Seiten der schmalen Schenkel seiner Mutter Buh machen. Und das tue ich auch. Ich sage: »Hallo, Rowan«, und: »Hast du in einem Flugzeug gesessen?« Dann sage ich abermals: »Hallo, Rowan – hallo, Schätzchen«, und überlege, wie ich dieses Kind in meine Arme locken oder ködern kann und es nach einer Weile küssen oder einatmen kann. Wie ich seine Erlaubnis erlisten oder erschwindeln kann, meine Wange an der Haut seines Rückens zu reiben, mit den Knochen seiner Wirbelsäule zu spielen und dicke Küsse in seine weichen Arme zu prusten. Vielleicht mit der Zeit. Vielleicht wird es mir mit der Zeit gelingen.
    »Ach, er sieht ihm schrecklich ähnlich«, sage ich zu seiner Mutter, deren Name, wie mir jetzt einfällt, Sarah ist. In Wahrheit habe ich schon die ganze Zeit über gewusst, dass sie so heißt.
    »Ja«, sagt sie.
    Und der Blick, den wir tauschen, ist ein Blick vollkommener Hochachtung.
    »Magst du dich zu uns setzen?«, frage ich und zeige auf den vorderen Teil des Kirchenschiffs, obwohl ich weiß, dass dies nicht der bestgeeignete Augenblick ist, um die Neuigkeit den anderen beizubringen.
    »Nein«, sagt sie. »Lieber nicht. Tut mir leid, bin eben erst eingetroffen.«
    »Schon in Ordnung«, sage ich. »Wirst du hinterher kommen?«
    »Ach, ich denke schon«, sagt sie. »Ich glaube, ich sollte wohl.«
    »Ja, du solltest. Du solltest.«
    Draußen ist die Limousine mit den Hinterbliebenen vorgefahren, aber ich stelle fest, dass ich von dem Jungen nicht lassen kann. Ich gehe in die Hocke und lächle. Wieder versteckt er sich. Ich strecke die Arme aus, und er rückt weiter ab. Er weiß, dass mein Verlangen nach ihm zu groß ist. Und dann sage ich, böser Mensch, der ich bin: »Hinterher, weißt du, wenn du mit uns allen mitkommst, gibt es eimerweise Eiscreme.«
    Das gefällt ihm.
    Hier kommen sie: meine Mutter, die winzig und rund an Beas elegantem Arm einhertänzelt. Auf der anderen Seite Mossie, ebenfalls hochgewachsen und stattlich auf eine Art, wie Akademiker es manchmal sind, seine sanfte Frau, seine drei allzu perfekten Kinder, Ita in langsamem Marschschritt, die Zwillinge Ivor und Jem, die den gesamten Mittelgang entlang zusammenstoßen und wieder auseinanderspritzen. Kitty, meine kleine Schwester, hält inne, um mit diskret theatralischer Geste meine Hand zu ergreifen. Als ich mich von Sarah abwende, nickt diese, um mir mitzuteilen, dass sie sich nicht fortstehlen wird, dass sie weiß, wer sie ist und weswegen sie gekommen ist.
    Ich bewege mich auf den Altar zu und ertrinke in Gefühlen, sei es Liebe oder
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