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Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster

Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster

Titel: Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
Autoren: Karin Wahlberg
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Prolog
    Sara-Ida öffnete langsam die Augen und blinzelte in das zartrosa Licht, das durch den Spalt des Rollos drang.
    Heute war ein besonderer Tag.
    Wie eine satt gegessene Katze, die sich zusammengerollt hat, blieb sie träge liegen und betrachtete das Licht. Sie nahm an, dass die Sonne gerade aufging. Es konnte aber auch schon recht spät sein. Sie wollte es gar nicht wissen. Ihr fehlte die Kraft. Sie schaute nicht auf die eckigen Ziffern des Radioweckers auf dem Hocker neben dem Bett. Sie musste erst um eins zur Arbeit. Sie konnte auf Termine und Verpflichtungen pfeifen, stattdessen liegen bleiben und zerstreut an ihren Gedanken kratzen wie an einem alten Schorf.
    Sie machte sich Gedanken über das Leben, denn sie hatte Träume, die ihr dabei halfen, die Welt bunter zu sehen. Das Grau der ereignislosen Tage, die kein Ende zu nehmen schienen, und das Dasein, das genauso blutleer und stumm wirkte wie die Bewohner des Pflegeheims, die zusammengesunken in ihren Sesseln oder Rollstühlen saßen, flößten ihr Angst ein.
    Aber das würde sich bald ändern. Sie selbst würde weiterziehen, die anderen würden zurückbleiben.
    Draußen surrte ein Motor im Leerlauf. Dumpfe Schläge und das Quietschen einer Hebevorrichtung waren zu hören. Das musste die Müllabfuhr sein. Es war also schon mindestens zehn Uhr.
    Im Zimmer wurde es allmählich wärmer. Das Wetter war diesen Oktober ungewöhnlich schön gewesen. Das kleine Fenster stand offen, aber das weiße Stoffrollo mit lichtundurchlässiger Silberbeschichtung verhinderte, dass frische Luft ins Zimmer drang. Sara-Ida hatte nicht die Kraft aufzustehen, ließ stattdessen ihren Blick zur Deckenlampe schweifen, einem weißen Reispapierball, von dem aus sich ein Spinnennetz bis an die Decke erstreckte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie es auf die eine oder andere Art schon schaukeln würde. Das Leben also. Sie war für etwas Besseres bestimmt. Sie sah gut aus.
    Plötzlich begann es in ihren Gliedern zu kribbeln. Die Decke war zu warm, und das Laken war zerwühlt. Sie reckte und streckte sich, bis ihr Rückgrat knackte. Dann schwang sie ihre Beine über die Bettkante und stellte sich kerzengerade vor den hohen Spiegel im Teakrahmen gegenüber von ihrem Bett neben der weißen Kommode, die sie von zuhause mitgenommen hatte.
    Jeden Morgen hatte sie bisher vor diesem Spiegel posiert. Manchmal nur ein paar Sekunden, meist jedoch länger. Sie konnte es einfach nicht bleiben lassen. Sie stand davor und gefiel sich ungemein. Ihre Mutter behauptete, das liege am Alter. Sara-Ida war das egal. Sie war sich sicher, dass sie noch lange so weitermachen würde, da sie wie besessen war zu sehen, wie verschiedene Mienen ihre Erscheinung beeinflussten.
    Am vorteilhaftesten nahm es sich aus, wenn sie den Kopf leicht zurücklegte, die Augen leicht zusammenkniff und die Lippen ein wenig öffnete. Sie hatte diese Pose einstudiert, sodass sie sie ohne Spiegel beherrschte, aber ein bisschen komisch sah sie wohl doch aus. Er hatte peinlicherweise gelächelt, als wäre sie noch ein Kind, und wissen wollen, was sie eigentlich bezwecke, und sie dann mit Nachdruck gebeten, mit diesem kindischen Unsinn aufzuhören. Das war an dem Tag gewesen, an dem er eine Dreiviertelstunde hatte warten müssen, weil einer seiner Patienten aus dem Bett gefallen war und sie sich anerboten hatte, bis zum Eintreffen des Krankenwagens zu bleiben. Er war natürlich richtig sauer geworden, keinerlei Entschuldigung hatte geholfen, also hatte sie nichts unversucht gelassen, um ihn zu beschwichtigen. Aber es war schiefgegangen.
    Der Spiegel war ihr treuester Kamerad. Als er sie aufgefordert hatte, ihn woanders aufzustellen, hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt. Zwar erbebte sie allein schon vor unergründlicher Befriedigung, wenn sie seinen Namen, den sie kaum in Gedanken auszusprechen wagte, auf der Zunge zergehen ließ. Aber lieber würde sie sterben, als auf den Spiegel zu verzichten.
    Sie hatten sich darauf geeinigt, ihre große Passion geheim zu halten.
    Sie spürte im ganzen Körper, dass er es ernst meinte. Er fand jedoch, dass sie diese unübertroffen große Liebe noch eine Weile für sich behalten sollten. Und sie war damit einverstanden.
    Als er sie gebeten hatte, den Spiegel umzustellen, hatte er verlegen gelacht, als handelte es sich um einen Scherz. Aber er hatte es ernst gemeint, das hatte sie gemerkt. Der Spiegel störte ihn, er fühlte sich beobachtet und von seinem eigenen Bild eingeengt, während sie zu Gange
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