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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
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berauschenden Hochgefühl erfaßt.
    Am Eingang zur Bahnhofshalle rieb er sich die müden Augen und gähnte. Es war Zeit, nach Hause zu fahren. Heim nach Middlemere.
    Der Bus setzte Romy vor dem Rising Sun ab, den Rest des Wegs nach Hause ging sie zu Fuß. Es gab zwei Pubs in Stratton, einen Laden und eine Kirche. Aus der Tür des zweiten Pubs rief ihr jemand zu und wollte ihr etwas zu trinken spendieren, aber sie schüttelte nur mit einem Lächeln den Kopf und ging weiter. Als sie am Friedhof vorüberkam, schauten die beiden Ziegenböcke, die am Straßenrand angepflockt waren, kurz zu ihr auf, dann zerrten sie weiter an der alten Zeitung, die sie sich zum Fraß auserkoren hatten.
    Romy wohnte in einem der sechs Sozialhäuser, die knapp einen halben Kilometer von der Kirche entfernt auf einer Anhöhe standen. Selbst im Sommer blies hier ständig ein Wind, der an der Wäsche auf der Leine riß, daß sie knallte, und die ordentlich angepflanzten Narzissen- und Tulpenbeete plättete. Aber im Garten der Parrys standen sowieso weder Narzissen noch Tulpen; im Vorgarten des Hauses Hill View 5 gab es nur ein paar Sträucher, die mühsam ums Überleben kämpften, sowie ein kleines ungepflegtes Rasenstück, auf dem durchweichte alte Pappkartons und mitgenommenes Kinderspielzeug herumlagen.
    Romys Mutter war in der Küche. Töpfe klapperten auf dem Herd. Martha hielt ein Messer in der Hand und den Kleinen auf der Hüfte. Er schrie, das rote, runde Gesicht verschmiert von Rotz und Tränen.
    »Du kommst spät«, sagte Martha.
    »Der Bus war voll, Mam. Ich mußte auf den zweiten warten.«
    »Hier, nimm mir Gareth mal ab.« Martha reichte Romy ihren Halbbruder. »Ich weiß nicht, was er hat. Er ist schon den ganzen Tag so quengelig. Wahrscheinlich brütet er wieder irgendwas aus.«
    Romy kramte in ihrer Tasche. »Zahltag, Mam.« Sie gab ihrer Mutter einen Zehn-Shilling-Schein und zwei Halbkronenstücke.
    Martha lächelte mit müdem Gesicht. »Du bist ein gutes Mädchen, Romy.« Sie versteckte das Geld in einer leeren Kakaodose und schob diese ganz hinten in einen der Küchenschränke. »Wickel ihn noch einmal und bring ihn dann ins Bett, ja? Wenn Ronnie oben ist, sag ihm, er soll runterkommen.« Martha hob den Deckel von einem der Töpfe auf dem Herd und stach mit der Messerspitze eine Kartoffel an. »Der junge Pike war übrigens hier und hat nach dir gefragt«, bemerkte sie. »Ich hab ihn weitergeschickt.«
    »Liam?«
    Martha nickte. »So ein eingebildeter Kerl! Den müßte mal jemand gehörig zurechtstutzen.«
    »Wo ist Jem?«
    Martha goß die Kartoffeln ab. »Er ist noch nicht da.«
    Als Romy hinausging, sagte Martha scharf: »Mach bloß nicht den gleichen Fehler wie ich und hals dir so jung schon einen Mann und Kinder auf. Dafür bist du zu gut, Romy.«
    Nachdem Romy den Kleinen zu Bett gebracht hatte, ging sie in das Zimmer, das sie mit ihrer dreizehnjährigen Stiefschwester Carol teilte. Carol stand mit einem Lippenstift in der Hand vor dem Spiegel. Auf dem Bett neben ihr lag eine offene Puderdose.
    Romy schnappte nach Luft. »Das sind meine Sachen! Was machst du mit meinen Sachen?«
    Carols Gesicht war eingepudert wie ein Babypopo. Sie lächelte selbstzufrieden mit knallrot verschmiertem Mund. »Schau ich schön aus?«
    »Du siehst fürchterlich aus.« Romy griff nach der Puderdose. Carol sprang zur Seite. Puder rieselte auf das Bett – mein Bett, dachte Romy wütend. Sie versuchte noch einmal, sich die Puderdose zu schnappen. Carol stolperte, rutschte aus und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Sofort begann sie laut zu schreien.
    »Das sag ich Dad!« Sie rannte aus dem Zimmer.
    Romy kniete nieder und fegte das Puder vom Linoleum in die Dose zurück. Sie hatte es gerade erst gekauft, es hatte einen Shilling und sechs Pence gekostet. Romy verdiente als Bürokraft ein Pfund achtzehn Shillinge die Woche. Fünfzehn Shillinge bekam ihre Mutter, zehn gab sie für Bus, Mittagessen und Kleidung aus, blieben genau dreizehn Shillinge, die sie jede Woche sparen konnte. Wenn das so weiterging, würde sie Jahre brauchen, um genug zusammenzubekommen. Romy war sehr vorsichtig mit ihrem Geld und drehte jeden Penny zweimal um.
    Sie hatte nicht vor, bis in alle Ewigkeit für ein Pfund achtzehn die Woche in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten. Sie hatte eine unbändige Sehnsucht danach, Neues zu sehen und zu erleben. Manchmal wurde die Sehnsucht so heftig, daß sie sich beinahe krank fühlte. Sie wünschte sich so vieles. Sie wünschte sich
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