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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
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raus. Allein seine Anwesenheit, sein Auftreten und sein Ton reichten aus, um Dennis zur Weißglut zu treiben. Aus irgendeinem Grund schien dieser seinen Stiefsohn abgrundtief zu hassen. All die Eigenschaften, die Romy an ihrem Bruder besonders liebte – seine Großzügigkeit, seine Gutmütigkeit, sein Charme und seine Spontaneität –, waren für Dennis offenbar die reine Provokation. All die Eigenschaften, die Romy Anlaß waren, sich um ihren Bruder zu sorgen – sein mangelndes Urteilsvermögen, seine Impulsivität und sein leicht entflammbarer Zorn, der jedoch niemals nachtragend war –, weckten den brutalen Schläger in Dennis.
    Als sie ihr Fahrrad durch das Wäldchen zurückschob, hörte sie am Straßenrand ein Auto halten. Liam Pike saß am Steuer des offenen Wagens. Romy war ein paarmal mit Liam ausgegangen, bevor er seinen Militärdienst begonnen hatte. Er war groß und gutaussehend; mehrere von Romys Freundinnen waren in ihn verliebt gewesen. Aber Romy störte irgend etwas an ihm. Er hatte auch jetzt noch etwas von dem verwöhnten und verhätschelten kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. Er war zwar auf dieselbe Schule gegangen wie Romy, aber Romys Mutter hatte früher einmal eine Zeitlang für seine Mutter geputzt, und Romy fragte sich, ob er nicht vielleicht deshalb auf sie herabsah.
    Liam klopfte auf das Lenkrad. »Toller Schlitten, was? Hast du Lust auf eine Spritztour?«
    Romy schüttelte den Kopf. »Ich muß Jem suchen.«
    »Romy!« Liam machte ein gequältes Gesicht. »Wir haben uns seit Monaten nicht gesehen. Und ich habe nur zehn Tage Urlaub.«
    »Tut mir leid.«
    »Morgen dann?«
    »Ich muß vormittags arbeiten.« Doch ihr Blick glitt zurück zu dem Auto mit dem Chrom und dem Leder. In einem Auto konnte man fahren, wohin man wollte. In einem Auto konnte man fliehen.
    »Komm schon, Romy«, drängte Liam.
    Sie zuckte mit den Schultern. »Also gut. Du kannst mich nach der Arbeit in Romsey abholen.«
    Luke Dayton ließ Jem mit seinem Auto fahren; Jem trat aufs Gas und brauste den schmalen Weg hinunter, der von der Straße zum dunklen kleinen Haus der Daytons führte. Jem fuhr gern schnell. Beim Fahren hörte man auf zu denken. Da gab es nur die Straße, das Auto, das Geräusch des Motors und das Vibrieren der Räder.
    Bei den Daytons rauchten sie und tranken mit Lukes Brüdern Bier. Dann spielten sie ein paar Runden Poker, und Jem verlor sein ganzes Geld. Danach holte einer der Jungen das Gewehr seines Vaters, und sie streiften auf der Suche nach Kaninchen durch das Unterholz rund um das Haus.
    Aber beim Krachen des Gewehrs, in das sich johlendes Gelächter mischte, begann Jem unbehaglich zu werden, und nach einer Weile trennte er sich von den anderen und begab sich auf den Heimweg nach Stratton.
    Während des langen Marschs zurück verflog die durch Alkohol und Geselligkeit erzeugte gute Stimmung, Jem zog den Kopf zwischen die Schultern und versuchte, die finsteren Gedanken, die auf ihn eindrangen, abzuwehren, indem er entschlossen vor sich hin summte. Er mochte die Dunkelheit nicht, hatte sie noch nie gemocht. Er war nicht gern im Dunkeln allein.
    Es war zwei Uhr morgens, als er zu Hause ankam. Ihm war nicht bewußt gewesen, daß es so spät war. Er bemühte sich, leise zu sein, als er ins Haus trat, aber Gareths Babystühlchen stand mitten in der Küche, und er stolperte prompt darüber. Mit wedelnden Armen versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, und fegte dabei zwei Teller vom Tisch. Wie erstarrt blieb er stehen, mit angehaltenem Atem. Eine Sekunde lang glaubte er, es würde gutgehen, der schlafende Dennis hätte das Rumoren nicht gehört, aber dann vernahm er von oben die wütende Stimme und den Klang polternder Schritte. Gleich darauf stand Dennis in Netzhemd und Pyjamahose an der Tür und brüllte ihn an. Jem entschuldigte sich, soviel Lärm gemacht, ihn geweckt, die Teller zerschlagen zu haben, und versuchte mit hastig gestammelten Worten, seinen Stiefvater zu besänftigen.
    Aber er fand nicht die richtigen Worte. Er fand nie die richtigen Worte. Er war nicht gescheit genug. Der erste Schlag traf ihn seitlich im Gesicht; der nächste mitten auf den Kopf und betäubte ihn. Dann kam seine Mutter und schrie Dennis an, er solle aufhören. Der versetzte ihr einen so brutalen Schlag, daß sie gegen den Türpfosten flog.
    Wut verdrängte die Angst. Ein roter Nebel schien Jem einzuhüllen. Wie ein Wilder stürzte er sich auf seinen Stiefvater, schlug ihn mit Fäusten, schrie ihn an,
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