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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
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und zerrupft hatten, kauerte neben dem Lebensmittelgeschäft. Vor langer Zeit hatte sie in diesem Laden Brausepulver gekauft. Vor langer Zeit hatte sie die Schwestern gekannt, die in diesen heruntergekommenen kleinen Häuschen gelebt hatten.
    Als sie Liam heftig beim Arm packte, machte der Wagen einen Schlenker.
    »Romy! Wir wären beinahe im Graben gelandet!«
    »Halt an! Bitte! Genau hier.«
    Er hielt den Wagen am Straßenrand an. Auf der anderen Seite führte ein schmaler, von Hecken gesäumter Weg den Hügel hinauf. Und hinter dem Hügel …
    Sie überlegte blitzschnell. Sie mußte allein sein. Unmöglich, jetzt mit einem anderen zusammenzusein. Sie wandte sich Liam zu. »Mir ist ein bißchen komisch, Liam. Vielleicht brauche ich einen Schluck Wasser oder so was.«
    »Wir können schauen, ob wir ein Pub finden.«
    »Die haben alle noch nicht offen. Aber in dem Dorf eben war ein Laden. Würdest du mir eine Limo holen?« Sie stieg aus dem Wagen.
    Er sah sie verdutzt an. »Wo gehst du hin?«
    »Ich lauf ein bißchen. Ich brauche frische Luft.«
    »Dann komm ich mit.« Liam kletterte ebenfalls aus dem Auto. Er legte ihr den Arm um die Taille und schob seine Finger unter den dünnen Stoff ihrer Bluse.
    Ihre Nerven waren so gereizt, daß sie ihn am liebsten weggestoßen hätte. »Liam! Nicht jetzt.«
    Er machte ein verdrossenes Gesicht. »Hör mal, Romy –«
    Schon im Davongehen rief sie ihm zu: »Wir treffen uns in zehn Minuten hier wieder.«
    Eine Beklommenheit hatte sie erfaßt, die ihr das Atmen schwer machte, als sie den Hügel hinaufstieg. Diesen Weg hatten sie und Jem immer genommen, wenn sie von der Schule nach Hause gekommen waren. Damals war ihnen der schmale, von Schlaglöchern durchsetzte Weg endlos lang vorgekommen. Jetzt war er zu einem kurzen Fußpfad geschrumpft.
    Während sie voranschritt, überfielen sie die Erinnerungen mit Macht. Im Herbst hatten sie hier Haselnüsse und Brombeeren und blauschwarze Schlehen gepflückt. Rosarot hatten die merkwürdig geformten Beeren des Pfaffenhütchens im Dickicht der Hecke geleuchtet. Einmal hatten sie eine Fuchsfamilie gesehen, flüchtige rotbraune Schatten im Unterholz. Im Sommer gab es hier Mohn, Skabiosen und Margeriten, im Frühjahr leuchtete ein blaues Meer aus Veilchen unter den Hecken …
    Wie jetzt. Sie hielt auf ihrem Weg inne, um ein Sträußchen zu pflücken. Halb drängte es sie umzukehren und zurückzugehen. Merkwürdig, wie ein Ort so widerstreitende Gefühle in einem auslösen konnte: solche Sehnsucht, solche Furcht.
    Sie ging weiter. Da war der Baum, den sie hinaufgeklettert war, um ihren Mut zu beweisen; hundert Meter hoch war er ihr damals vorgekommen, jetzt war er geschrumpft, von der Zeit gestutzt und beschnitten. Und da war der Zauntritt, an dem Jem beim Hinüberklettern gefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Über den Zauntritt gelangte man weg vom Fußweg in ein Buchenwäldchen. Die grauen Baumstämme waren wie aus Stein gemeißelt. Romy streckte den Arm aus und strich mit der flachen Hand über die glatte, silbrige Borke. Die Bäume spiegelten sich im dunklen, runden Weiher. Sie hatten nicht oft hier gespielt, sie und Jem; zu bedrückend und unheimlich war dieser in sich geschlossene Ort gewesen. Jetzt streiften sie lange tiefhängende Äste. Dornige Ranken verfingen sich in ihren Haaren und rissen an ihren Strümpfen wie scharfe Krallen. Die Absätze ihrer Schuhe sanken im weichen Boden ein, und sie sah die schwammigen weißen Pilze, die unter Bucheckern und welkem Laub aus der Erde schossen. Sie hielt den Atem an, und ihre Rippen umschlossen ihre Lunge wie eiserne Stäbe …
    Dann erreichte sie den Waldrand und blieb mit einem Aufatmen der Erleichterung am oberen Feldrain stehen. Dort unten, in der seichten Talmulde, die aus dem Hügelhang herausgeschnitten war, lag Middlemere.
    Ein Teil der inneren Spannung löste sich, und sie lächelte, zum erstenmal an diesem Tag, wie ihr schien. Das Haus aus Flint und Ziegel kehrte dem Fußweg den Rücken und blickte südwärts ins Tal. Hügel erhoben sich zu beiden Seiten, doch nach vorn bot sich ihr ein freier Blick auf Felder, Wälder und Dörfer, die alle in der Ferne in kobaltblauem Dunst verschmolzen.
    Jeder Schritt war von Erinnerungen begleitet, als Romy den Hügel hinunterging. Sie war wieder acht Jahre alt und auf dem Weg nach Hause; an den Ort, wo sie sich geborgen und angenommen fühlte; dort, wohin sie gehörte. Das Gefühl der Enge und der Wunsch zu fliehen, die in
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