Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
schöne Kleider, Bücher, Kinobesuche. Sie wünschte sich, ihre Mutter wäre nicht so müde und abgehärmt. Sie wünschte sich, Jem würde es länger als ein paar Monate an einer Arbeitsstelle aushalten; sie wünschte sich, er würde nicht immer wieder tagelang verschwinden und sich von Gaunern wie den Dayton-Brüdern fernhalten.
    Sie wünschte sich ein eigenes Zimmer, das sie nicht mit der blöden Carol teilen mußte. Vor allem aber wünschte sie sich weg aus Stratton. Sie wollte in der Stadt leben – in Salisbury vielleicht oder auch in Southampton; ganz gleich wo, Hauptsache nicht im langweiligen Stratton bei den gräßlichen Parrys. In jüngster Zeit quälte Romy eine immer stärkere Angst, daß sie all ihren Wünschen und Bemühungen, diese zu verwirklichen, zum Trotz unwiderstehlich vom stumpfsinnigen Einerlei und von der Engstirnigkeit Strattons eingefangen und verschlungen werden würde.
    Nächstes Jahr um diese Zeit, schwor sie sich, würde sie eine bessere Stellung haben und eine eigene Wohnung. Sie würde dann neunzehn sein, fast zwanzig. Sie stellte sich vor, sie säße in einem Büro, wo sie Befehle erteilte und Schecks einlöste. Sie trüge einen eleganten Rock mit Jackett und wäre perfekt geschminkt und ihr widerspenstiges glattes Haar perfekt gelockt.
    Sie versteckte das Puder unter der Matratze neben ihrem Sparbuch und klappte das Buch kurz auf, um sich die Gesamtsumme ihrer Ersparnisse anzusehen. Sie lächelte. Siebenunddreißig Pfund und sechs Shillinge. Nur noch zwei Pfund und vierzehn Shillinge, dann würde sie vierzig Pfund beisammenhaben.
    Man muß nur warten können , hatte Miss Evans, ihre Lehrerin am Gymnasium, immer gesagt. Gottes Wege sind unergründlich . Nun, Gott hatte Miss Evans’ ehrgeiziges Bemühen, Romy das Universitätsstudium zu ermöglichen, nicht unterstützt, und Romy hatte es nicht über sich gebracht, Miss Evans zu sagen, daß ihrer Ansicht nach ein Studium nur monumentale Zeitverschwendung war und sich an dieser Auffassung auch nichts geändert hätte, wenn ihr Stiefvater sie noch die sechste Klasse hätte besuchen lassen. Das, was Romy wollte, bekam man nicht, indem man sich drei Jahre lang in fade Theorie vergrub. Man erreichte es nur durch harte praktische Arbeit. Und indem man sich von nichts und niemandem aufhalten ließ.
    Jem kam nicht zum Abendessen. Nachdem Romy abgespült hatte, fuhr sie mit dem Fahrrad los, um ihn zu suchen.
    Zuerst versuchte sie ihr Glück in den Pubs, im schummrigen rauchverhangenen Halbdunkel des George IV. und des Rising Sun. Jem war nicht da, aber Mr. Belbin, der Lebensmittelhändler, rief ihr zu: »He, wenn du deinen Bruder suchst, ich hab ihn mit Luke Dayton gesehen.« Romy sank der Mut. Sie radelte weiter den Hügel hinunter und prüfte systematisch Jems bevorzugte Schlupfwinkel: den feuchten Luftschutzbunker gegenüber der Schule, in dem es von Spinnen wimmelte; den Steinbruch, der in diesem nassen Frühjahr randvoll mit kaffeebraunem Wasser stand.
    Der Steinbruch lag am Rand eines Waldes. Romy lehnte ihr Rad an einen Baum, setzte sich auf einen umgestürzten Stamm und schaute auf das glatte braune Wasser hinaus. Sie kam oft hierher; hier konnte man gut nachdenken. Zu Hause war Nachdenken unmöglich, es waren zu viele Leute um einen herum. Trotzdem war das Haus am Hill View 5 natürlich ungleich besser als die Fremdenheime und heruntergekommenen Hütten, in denen sie vorher gehaust hatten. Romy war schon seit langem klar, daß ihre Mutter Dennis Parry wegen des Hauses geheiratet hatte.
    Dennis war verwitwet und hatte eine kleine Tochter. Er hatte eine Haushälterin gesucht und eine Mutter für Carol. Martha hatte für sich und ihre beiden Kinder ein Dach über dem Kopf gebraucht. Dennis Parry war von Beruf Maurer, und wenn er auch mit Unterbrechungen arbeitete, verdienten er, Martha und Romy gemeinsam doch immer genug, um die Miete bezahlen zu können. Der Luxus fließenden Wassers und eine Innentoilette schien nicht einmal mit der späteren Ankunft von Ronnie und Gareth zu teuer bezahlt.
    Romy versuchte, Dennis zu ignorieren und so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Wenn er sie anbrüllte, stellte sie sich vor, er wäre eine Maus, die in der Ecke saß und piepste. Wenn er sie schlug, versteckte sie die blauen Flecken unter langärmeligen Blusen oder blickdichten Strümpfen. Ziemlich schnell hatte sie gelernt, mit Dennis’ Wutausbrüchen zu rechnen, und meistens gelang es ihr, seinen Schlägen zu entkommen. Jem hatte das bis heute nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher