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Das Ekel von Datteln

Das Ekel von Datteln

Titel: Das Ekel von Datteln
Autoren: Leo P. Reinhard; Ard Junge
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herabhängenden Ästen, die ihm immer wieder vor die Kamera rutschten.
    »Es hat keiner was gemerkt«, konterte Roggenkemper unten. Seine Stimme kam so scharf herauf, dass der Aussteuerungspegel endlich Sendequalität meldete.
    Saale konnte nicht länger warten und drückte die Aufnahme- und Starttaste. Die Kassette begann zu laufen: »Zehn Tage Schneetreiben. Ich sehe uns noch im …«
    Das grüne Lichtsignal im Suchermonitor brachte Mager in Panik. Er war so daran gewöhnt, die Kamera selbst einzuschalten, dass er jetzt genau das Falsche tat. Er drückte auf Off.
    Idiot, dachte Saale. Er zerrte so fest am Verbindungskabel, dass es Mager fast die Kamera von der Schulter riss. Der Dicke drehte sich um und schoss einen Blick ab, der ausgereicht hätte, eine Herde Büffel zu verjagen.
    »Los«, schrie Saale in Lippensprache.
    Mager nickte, peilte durchs Okular und startete die Aufnahme. Mit dem Einschalten der Kamera sank der Pegel sofort ins rote Feld. Aber das Band – es drehte sich. Saale presste den Kopfhörer so fest gegen das Ohr, dass er fast im Gehörgang verschwand. Zugleich versuchte er, das Mikro ruhig zu halten.
    »Sie war eine Nutte«, verteidigte sich Roggenkemper. »Sie hat es mit der ganzen Batterie getrieben.«
    »Was ändert das denn?«, schrie Puth. »Sie war ein Mensch, egal, was sie getan hat. Niemand gibt uns das Recht, zu entscheiden …«
    Eine Schiffssirene übertönte den Rest des Satzes. Weiter draußen im Hafenbecken waren sich zwei Kohlenfrachter ins Gehege kommen. Saale hätte sie auf der Stelle versenken können.
    Als er wieder hinabschaute, kaute Roggenkemper an einem Weidenzweig und sah Puth böse und hinterhältig an. Die Geschichte, die der andere erzählte, schien ihm nicht zu gefallen. Aber das Heulen der Sirene war verhallt, und die nächsten Worte waren wieder deutlich zu hören.
    »Und wer hat am nächsten Tag die Bücher auf der Schreibstube gefälscht? Passierschein für Hanna So-und-so? Wer hat das Gerücht in Umlauf gesetzt, sie hätte nach Zwolle zurückgewollt? Ich war’s. Vierzig Jahre lang habe ich geschwiegen, habe das mit mir herumgeschleppt. Und du setzt mir Spitzel auf den Leib. Hau ab, Roggenkemper, du hast bei mir verschissen …«
    »Jetzt will ich dir mal was sagen«, fuhr ihm der andere in die Parade.
    »Du hast das alles eingebrockt. Wenn du deinen Mund gehalten hättest, brauchtest du jetzt nicht zu jammern. Das war ganz allein deine Entscheidung, deine Sekretärin zur Beichtmutter zu machen und ihr diese alten Storys aufzutischen. Kein Wunder, dass sie schnurstracks …«
    Wie aus dem Nichts tauchte die Silhouette eines Tornado über dem Hafen auf. Die Triebwerke brüllten Saale die Ohren voll. Genau über den grünen Stahlgerüsten der Ostschleuse zog der Pilot den Todesvogel in die Kurve – weiter durfte er nicht, der Himmel über dem Ruhrgebiet war tabu.
    »Seit zweiundvierzig Jahren schleppe ich das mit mir herum. Es gab Nächte, in denen ich keine Stunde Schlaf bekam. Und an jenem Montag war ich nah daran zu krepieren. Du weißt ja nicht, wie das ist, so ein Herzinfarkt. Das sind Schmerzen, viel schlimmer als alles, was du kennst. Wenn du darüber hinweg bist, dann fallen dir alle Sünden wieder ein. Dann weißt du, das nächste Mal überlebst du’s nicht. Und dann will man alles loswerden …«
    Er schwieg einen Moment und schüttelte stumm den Kopf. Seine Schultern hingen so tief herunter wie an jenem Tag, als Saale ihn zum ersten Mal gesehen hatte, vierzehn Tage nach dem Herzinfarkt, als Gellermann die Bankiers durch die Hallen schleifte.
    »Ich hatte zum Glück die Schmerztabletten im Büro. Als sie endlich wirkten und ich mit Ruth auf den Krankenwagen wartete, da war ich restlos kaputt. Ich hatte Angst, sie kriegten mich im Krankenhaus nicht wieder hin. Ich dachte, das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, alles zu erzählen …«
    In diesem Augenblick machte es im Rekorder Klack. Die Stimmen und alle Nebengeräusche im Kopfhörer verschwanden, das Band stand. Saale hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen.
    Roggenkemper lachte schrill.
    »Und deswegen hast du gesungen? Ich sage dir was, Gustav: Du bist alt und schlapp und wehleidig geworden. Deine Selbstbeherrschung ist hin, du hast keinen Biss mehr. Und wer muss das ausbaden? Ich. Wen hat sie denn von Vlieland aus angerufen? Mich! Hallo, Bürgermeister! Rate, wo ich bin? Kennst du noch das Hotel Dijkstra? Wie schön! Und jetzt hör gut zu: Ich habe den Beweis, dass du auf Vlieland
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