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Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
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glaube, solche Menschen gibt es seit Zehntausenden von Jahren nicht mehr«, erwiderte Mitch.
    Tilde schien seine Aussage über die entfernte Vergangenheit nicht zu beachten. »Sie sind doch Europäer wie der Ötzi?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Mitch, schüttelte dabei aber den Kopf und hob die Hand. Er wollte nicht reden; er wollte denken. Das hier war ein äußerst gefährlicher Ort, gefährlich in beruflicher, seelischer, jeglicher Hinsicht. Gefährlich, wie ein Traum und unmöglich.
    »Sag’ etwas, Mitch«, bettelte Tilde überraschend sanft. »Sag’
    mir, was du siehst.« Sie streckte die Hand aus und streichelte sein Knie. Franco sah der Zärtlichkeit gelassen zu.
    Mitch setzte an: »Es ist ein Mann und eine Frau, beide etwa einen Meter sechzig groß.«
    »Kleine Menschen«, sagte Franco, aber Mitch überging ihn völlig.
    »Sie scheinen zur Gattung Homo zu gehören, Spezies sapiens.
    Aber sie sind nicht wie wir. Sie könnten an einer Art Kleinwuchs gelitten haben, mit abweichendem Gesichtsschnitt …« Er hielt inne und sah wieder die Köpfe an. Anzeichen für Kleinwuchs waren nicht zu erkennen, aber die Masken beunruhigten ihn.
    Die klassischen Merkmale. »Das sind keine Kleinwüchsigen«, sagte er. »Es sind Neandertaler.«
    Tilde hustete. Die trockene Luft dörrte ihnen die Kehle aus.
    »Wie bitte?«
    »Höhlenmenschen?«, fragte Franco.
    »Neandertaler«, wiederholte Mitch, nicht nur um Franco zu korrigieren, sondern auch um sich selbst zu überzeugen.
    »Das ist doch Quatsch«, sagte Tilde, und ihre Stimme klang rau vor Wut. »Wir sind keine kleinen Kinder.«
    »Das ist überhaupt kein Quatsch. Ihr habt zwei gut erhaltene Neandertaler gefunden, einen Mann und eine Frau. Die ersten Neandertaler-Mumien … auf der Welt. Aller Zeiten.«
    Tilde und Franco dachten einen Augenblick nach. Draußen, am Höhleneingang, heulte der Wind. »Wie alt?«, fragte Franco.
    »Nach allgemeiner Ansicht sind die Neandertaler irgendwann vor hunderttausend bis vierzigtausend Jahren ausgestorben«, sagte Mitch. »Vielleicht ist die allgemeine Ansicht falsch. Aber ich bezweifle, dass sie in diesem guterhaltenen Zustand vierzigtausend Jahre in dieser Höhle überdauert haben.«
    »Vielleicht waren es die letzten«, sagte Franco und bekreuzigte sich andächtig.
    »Unglaublich«, sagte Tilde, und ihr Gesicht rötete sich. »Wie viel sind sie wert?«
    Mitch bekam einen Krampf im Bein. Er kroch zurück und kauerte sich neben Franco. Mit dem behandschuhten Knöchel rieb er sich die Augen. Kalt. Er bibberte. Der Lichtmond verschwamm und verschob sich. »Sie sind überhaupt nichts wert«, sagte er.
    »Mach’ keine Witze«, erwiderte Tilde. »Sie sind selten – so etwas gibt es noch nicht, stimmt’s?«
    »Selbst wenn wir – ich meine, wenn ihr – sie vollständig und unbeschädigt aus der Höhle holen und den Berg hinunterbringen könntet, wo wolltet ihr sie verkaufen?«
    »Es gibt Leute, die sammeln so was«, sagte Franco. »Leute mit viel Geld. Wir haben schon mit jemandem über einen Eismenschen gesprochen. Ein Mann und eine Frau, das würde sicher …«
    »Ich muss wohl ein bisschen direkter werden«, sagte Mitch.
    »Wenn das hier nicht wissenschaftlich korrekt gehandhabt wird, gehe ich zu den Behörden in der Schweiz, in Italien, wo wir hier auch sein mögen, und erzähle es ihnen.«
    Wieder Schweigen. Mitch konnte Tildes Gedanken fast hören; sie arbeiteten wie ein kleines Schweizer Uhrwerk.
    Franco schlug mit der behandschuhten Hand auf den Höhlenboden und sah Mitch an. »Warum willst du uns alles vermasseln?«
    »Weil diese Menschen euch nicht gehören«, antwortete Mitch.
    »Sie gehören niemandem.«
    »Sie sind tot!« schrie Franco. »Sie gehören sich selbst nicht mehr, oder?«
    Tildes Lippen bildeten eine gerade, schmale Linie. »Mitch hat Recht. Wir werden sie nicht verkaufen.«
    Ein wenig erschrocken sprudelten Mitchs nächste Worte heraus.
    »Ich weiß nicht, was ihr sonst vielleicht mit ihnen vorhabt, aber ich glaube, ihr werdet keinen Einfluss auf sie haben und auch keine Rechte verkaufen, damit dann Höhlenmenschen-Barbiepuppen oder sonst was hergestellt werden.« Er atmete tief durch.
    »Nein, noch einmal, ich habe gesagt: Mitch hat Recht«, verkündete Tilde langsam. Franco blickte sie mit erwartungsvollem Zwinkern an. »Das ist eine ganz große Sache. Wir werden brave Staatsbürger sein. Sie sind die Vorfahren von allen. Papa und Mama der ganzen Welt.«
    Mitch spürte eindeutig, wie die Kopfschmerzen kamen.
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