Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Die länglichen Lichterscheinungen waren eine altvertraute Warnung gewesen: Der Zug kam und zermalmte seinen Kopf. Wenn er einen Migräneanfall bekam, ein richtiges Messer im Kopf, würde der Abstieg schwierig oder unmöglich werden. Er hatte keinerlei Medikamente dabei. »Wollt ihr mich hier oben umbringen?«, fragte er Tilde.
    Franco warf ihm einen Blick zu, wälzte sich herum und sah in Erwartung einer Antwort zu Tilde hinüber.
    Tilde grinste und fasste sich ans Kinn. »Ich denke gerade nach«, sagte sie. »Was wären wir für tolle Bösewichter, das gäbe den Stoff für glorreiche Geschichten ab. Freibeuter der Vorgeschichte. He, ho, und ’ne Flasche voll Rum.«
    »Folgendes ist zu tun«, sagte Mitch in der Annahme, sie habe seine Frage verneint. »Wir müssen von jeder Leiche eine Gewebeprobe entnehmen, wobei wir sie möglichst wenig beschädigen. Dann …«
    Er griff nach der Taschenlampe und ließ den Lichtkegel jenseits der eng nebeneinander liegenden, schlaftrunkenen Köpfe des Mannes und der Frau in die rund drei Meter entfernte Nische am Ende der Höhle gleiten. Dort lag, in Fell eingewickelt, etwas Kleines.
    »Was ist denn das?«, fragten er und Franco wie aus einem Mund.
    Mitch überlegte. Er konnte sich um die Frau herum robben und schlängeln, ohne etwas anderes aufzuwirbeln als den Staub. Andererseits war es am besten, alles völlig unberührt zu lassen, sich jetzt aus der Höhle zurückzuziehen und die wirklichen Fachleute zu holen. Die Gewebeproben würden als Beweis ausreichen, davon war er überzeugt. Aus den Knochenuntersuchungen wusste man genug über die DNA der Neandertaler. Man konnte es bestätigen und die Höhle verschließen, bis …
    Er presste die Hände gegen die Schläfen und schloss die Augen.
    Tilde tippte ihm auf die Schulter und schob ihn sanft beiseite.
    »Ich bin kleiner«, erklärte sie und kroch an der Frau vorbei zum hinteren Ende der Höhle.
    Mitch sah zu und sagte nichts. So fühlte man sich, wenn man eine richtige Sünde beging – die Sünde ungezügelter Neugier. Er würde es sich nie verzeihen, aber wie, so überlegte er, konnte er sie aufhalten, ohne die Leichen zu beschädigen? Außerdem war sie vorsichtig.
    Tilde legte sich so flach, dass ihr Gesicht neben dem Bündel den Boden berührte. Sie griff mit zwei Fingern nach dem Fell und drehte es langsam um. Mitchs Kehle schnürte sich vor Wut zusammen. »Leuchte mal hierher«, verlangte sie. Mitch gehorchte.
    Auch Franco richtete seine Taschenlampe auf die Stelle.
    »Es ist eine Puppe«, sagte Tilde.
    Aus dem oberen Ende des Bündels blickte ein kleines Gesicht wie ein dunkler, runzeliger Apfel mit zwei winzigen, eingesunkenen Augen.
    »Nein«, erwiderte Mitch. »Es ist ein Baby.«
    Tilde zuckte ein paar Zentimeter zurück und gab ein leises, überraschtes hmm von sich.
    Der Kopfschmerz überrollte Mitch wie eine Dampfwalze.

    Franco stand am Höhleneingang und hielt Mitch am Arm. Tilde war noch drin. Mitchs Migräne hatte die Stärke 9 mit visuellen Begleiterscheinungen und allem Drum und Dran erreicht, und er musste sich am Riemen reißen, um sich nicht zusammenzukrümmen und zu schreien. Das trockene Würgen hatte er an der Höhlenwand bereits hinter sich gebracht, und jetzt hatte er heftigen Schüttelfrost.
    Er wusste ganz genau, dass er hier oben sterben würde, an der Schwelle zur ungewöhnlichsten anthropologischen Entdeckung aller Zeiten, und dass er sie in den Händen von Tilde und Franco lassen musste, die eigentlich nur bessere Diebe waren.
    »Was macht sie da drin?«, stöhnte Mitch mit gesenktem Kopf.
    Selbst die Dämmerung war ihm zu hell. Aber es wurde jetzt schnell dunkel.
    »Nicht deine Sache«, sagte Franco und griff noch fester nach seinem Arm.
    Mitch trat zurück und tastete blind nach den Gefäßen mit den Gewebeproben in seiner Tasche. Er hatte es geschafft, aus dem Oberschenkel des Mannes und der Frau zwei kleine Stücke zu entnehmen, bevor der Schmerz seinen Höhepunkt erreichte; jetzt konnte er kaum noch geradeaus blicken.
    Als er mühsam die Augen öffnete, sah er ein himmlisches Saphirblau, das den Berg, das Eis, den Schnee präzise nachzeichnete, aber es war in den Augenwinkeln von einem Aufleuchten überlagert, das kleinen Blitzen ähnelte.
    Tilde kam aus der Höhle, in der einen Hand die Kamera, in der anderen den Rucksack. »Wir haben genug zusammen, um alles zu beweisen«, sagte sie. Mit Franco sprach sie ein schnelles, leises Italienisch. Mitch verstand sie nicht, und es war ihm auch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher