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Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
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näherten sich der Felswand und einer Schneebrücke, die über eine vom Schmelzwasser gegrabene Kluft führte. Diese mittlerweile gefrorenen Wasserläufe bildeten sich vom Frühjahr bis zum Sommer und fraßen sich in die Kante des Gletschers. Jenseits der Brücke hing von einer U-förmigen Vertiefung in der Wand etwas hinab, das so aussah, als hätte man die Burg eines Berggeistes auf den Kopf gestellt – oder eine Orgel aus dem Eis gemeißelt: ein gefrorener Wasserfall, der zu vielen dicken Säulen erstarrt war.
    Um das schmutzige Weiß an seinem Fuß hatten sich Eisbrocken und Schneeverwehungen gesammelt, das leicht gelbliche Weiß an seiner Spitze hatte die Sonne glatt poliert.
    Als tauche er plötzlich aus einem Nebel auf, kam Franco in Sicht und schloss zu Tilde auf. Bisher hatten sie sich auf relativ ebenem doch bewegt, jetzt wollten Tilde und Franco offensichtlich an den Orgelpfeifen hochklettern.
    Mitch blieb einen Augenblick stehen und griff hinter sich, um den Eispickel herauszuziehen. Er schob die Brille hoch, kauerte sich hin und ließ sich mit einem Grunzen auf den Hintern fallen, um seine Steigeisen zu überprüfen. Die Eisbrocken zwischen den Spitzen mussten seinem Messer weichen.
    Tilde kam ein paar Meter zurück, um mit ihm zu reden. Als er zu ihr aufsah, bildeten seine buschigen, dunklen Augenbrauen eine Brücke über der Himmelfahrtsnase, während die runden grünen Augen wegen der Kälte zwinkerten.
    »Damit sparen wir eine Stunde«, sagte Tilde und zeigte auf die Orgel. »Es ist schon spät. Deinetwegen sind wir langsam vorangekommen.« Das Englisch kam präzise und mit einem verführerischen österreichischen Akzent von ihren schmalen Lippen. Sie war schmächtig, aber gut proportioniert. Die hellblonden Haare hatte sie unter einer dunkelblauen Polartec-Mütze versteckt, und aus dem Elfengesicht blickten klare, graue Augen. Attraktiv, aber nicht Mitchs Typ; dennoch hatten sie kurz etwas miteinander gehabt, ehe Franco aufgetaucht war.
    »Ich sag’ dir doch, ich bin seit acht Jahren nicht geklettert«, erwiderte Mitch. Franco stellte ihn mit Leichtigkeit in den Schatten.
    Der Italiener lehnte nahe der Orgel auf seinem Eispickel.
    Tilde erwog und beurteilte alles, nahm nur das Beste, verwarf das Zweitbeste, zerriss aber niemals alte Bande – für den Fall, dass ihre früheren Verbindungen sich noch einmal als nützlich erweisen sollten. Franco besaß einen kantigen Unterkiefer, weiße Zähne, einen eckigen Schädel mit dickem schwarzen, seitlich rasierten Haar, eine Adlernase, mediterran-olivbraune Haut, breite Schultern, muskelbepackte Arme und feingliedrige Hände. Er war sehr stark. In Tildes Augen war er nicht allzu schlau, aber auch kein Dummkopf. Mitch konnte sich vorstellen, wie sie sich von der Aussicht, mit Franco ins Bett zu gehen, aus ihrem dichten österreichischen Wald hatte locken lassen; wie sich, Tortenschichten gleich, das Helle und das Dunkle übereinander gelegt hatten. Diese Vorstellung machte ihm seltsamerweise nur wenig aus. Tilde gab sich dem Sex mit einer mechanischen Gründlichkeit hin, die Mitch eine Zeit lang getäuscht hatte, bis ihm klar geworden war, dass sie die Bewegungen eine nach der anderen schlicht als eine Art geistige Übung vollzog. Genauso aß sie auch. Nichts berührte sie wirklich tief, aber manchmal war sie ganz schön gewitzt und zeigte ein reizendes Lächeln, das Linien in die Winkel ihrer dünnen, scharf konturierten Lippen grub.
    »Wir müssen vor Sonnenuntergang unten sein«, erklärte Tilde.
    »Ich weiß nicht, wie das Wetter wird. Bis zur Höhle sind es noch zwei Stunden. Nicht weit, aber viel Kletterei. Wenn wir Glück haben, bleibt dir eine Stunde, um unseren Fund zu untersuchen.«
    »Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte Mitch. »Wie weit sind wir von den Touristenrouten entfernt? Seit Stunden habe ich keine rote Markierung mehr gesehen.«
    Während Tilde die Schneebrille abnahm und sie putzte, schenkte sie ihm ein flüchtiges Lächeln, in dem jedoch keine Wärme lag.
    »Hier oben gibt es keine Touristen. Meistens kommen nicht einmal die guten Bergsteiger hier hinauf. Aber ich kenne den Weg.«
    »Eine Göttin des Schnees«, bemerkte Mitch.
    Sie nahm es als Kompliment. »Was hast du erwartet? Schon als kleines Mädchen bin ich hier herumgeklettert.«
    »Du bist immer noch ein Mädchen«, erwiderte Mitch. »Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«
    Sie hatte Mitch nie verraten, wie alt sie war. Jetzt taxierte sie ihn wie einen Schmuckstein, den sie
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