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Das Darwin-Virus

Das Darwin-Virus

Titel: Das Darwin-Virus
Autoren: Greg Bear
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Schädel. An den Körpern war noch ziemlich viel mumifiziertes Fleisch übrig, und an dem Schädel, um Stirn, Augen und Wangen, hingen ein paar seltsam aussehende Bänder. Sie suchte nach Spuren von Insektenpuppen und fand in dem verwesten Hals einige tote Schmeißfliegenlarven, aber viele waren es nicht. Die Leichen waren wenige Stunden nach dem Tod bestattet worden. Sie vermutete, dass man sie nicht gerade im tiefsten Winter vergraben hatte, denn dann gibt es keine Schmeißfliegen. Natürlich war der Winter in dieser Höhenlage in Georgien mild.
    Sie griff nach einem kleinen Taschenmesser, das neben einem der Rümpfe lag, und hob damit einen Fetzen Stoff an – früher einmal war es weiße Baumwolle gewesen. Dann löste sie am Bauch einen steifen, gewölbten Hautlappen. In dem Stoff und der Haut über dem Beckenknochen waren Einschusslöcher. »Du lieber Gott«, sagte sie.
    Im Becken, zusammengekauert in Schmutz und harten Gewebeschichten, lag ein kleinerer Körper; er war zusammengerollt, kaum mehr als ein Haufen winziger Knochen mit eingedrücktem Schädel.
    »Colonel.« Sie machte Beck darauf aufmerksam. Sein Gesicht wurde zu Stein.
    Die Leichen konnten ohne weiteres fünfzig Jahre alt sein, aber dafür waren sie in bemerkenswert gutem Zustand. Ein wenig Baumwolle und Wolle waren noch erhalten, und alles war sehr trocken. Heute floss Abwasser durch das Gebiet. Die Gräben waren tief. Aber die Wurzeln …
    Wieder sagte Chikurishvili etwas. Es hörte sich verbindlicher und fast ein wenig schuldbewusst an. Über die Jahrhunderte musste man mit einer Menge Schuld fertig werden.
    »Er sagt, es sind beides Frauen«, flüsterte Lado in Kayes Richtung.
    »Das sehe ich auch«, murmelte sie.
    Sie ging um den Tisch und untersuchte den zweiten Rumpf.
    Hier war die Bauchhaut nicht mehr vorhanden. Als sie den Schmutz abkratzte, wackelte der Torso mit einem Geräusch wie von einem getrockneten Kürbis. Auch in seinem Becken lag ein kleiner Schädel, ein Fetus von etwa sechs Monaten, genau wie bei dem anderen. Die Gliedmaßen zu dem Rumpf fehlten; ob die Beine im Grab eng nebeneinander gelegen hatten, konnte Kaye nicht feststellen. Keiner der beiden Feten war durch den Druck der Verwesungsgase ausgetrieben worden.
    »Beide schwanger«, sagte sie. Lado übersetzte ins Georgische.
    Leise sagte Beck: »Wir haben über sechzig Personen gezählt. Die Frauen sind anscheinend erschossen worden. Und die Männer hat man entweder erschossen oder erschlagen.«
    Chikurishvili deutete auf Beck und dann wieder auf das Lager; sein Gesicht leuchtete rötlich im Widerschein der Taschenlampen.
    »Jugashvili, Stalin.« Der Offizier sagte, die Gräber seien während der Säuberungen ausgehoben worden, wenige Jahre vor dem großen vaterländischen Krieg. Also Ende der dreißiger Jahre. Demnach wären sie fast siebzig Jahre alt, uralte Neuigkeiten, nichts was die UN etwas anging.
    Lado sagte: »Er will, dass Russen und UN hier verschwinden. Er sagt, es sei eine innere Angelegenheit, nichts für Friedenstruppen.«
    Wieder redete Beck auf den georgischen Offizier ein, dieses Mal weniger sanft. Lado gelangte zu dem Schluss, er wolle nicht im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen, und ging hinüber zu Kaye. Sie beugte sich gerade über den zweiten Rumpf. »Üble Geschichte«, sagte er.
    »Zu lange.« Kaye sprach leise.
    »Was ist zu lange?«
    »Siebzig Jahre sind viel zu lange«, erwiderte sie. »Worüber diskutieren die?« Sie stach mit dem Taschenmesser in die seltsamen Gewebebänder an den Augenhöhlen, die fast eine Art Maske bildeten. Hatte man ihnen vor der Exekution die Augen verbunden?
    Das glaubte sie nicht. Die Verbände waren dunkel, klebrig und widerstandsfähig.
    »Der UN-Mann sagt, für Kriegsverbrechen gibt es keine Grenze«, erklärte ihr Lado. »Keine – wie sagt man – Verjährung.«
    »Da hat er Recht«, erwiderte Kaye. Vorsichtig drehte sie den Schädel um. Der Hinterkopf war seitlich zertrümmert und drei Zentimeter tief eingedrückt.
    Dann wandte sie sich dem winzigen Skelett zu, das zusammengerollt im Becken des zweiten Rumpfes lag. Im dritten und vierten Semester ihres Medizinstudiums hatte sie ein paar Kurse in Embryologie belegt. Der Knochenbau des Fetus sah ein wenig seltsam aus, aber sie wollte den Schädel nicht aus dem verbackenen Boden und trockenen Gewebe lösen, denn dabei hätte sie ihn beschädigt.
    Sie war schon weit genug vorgedrungen.
    Kaye hatte ein ungutes Gefühl. Ihr war nicht nur übel von den
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