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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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durch deren Nadeln kein Lichtstrahl fiel. Irgendwo dort wartete er, bis sie sich wieder in Bewegung setzte. Er folgte ihr niemals bis nach Hause, ließ sie immer auf dem letzten Stück allein.
    Sie sprang mit einem übermütigen Satz über den gestürzten Ast hinweg und legte die letzten fünfzig Schritt bis zum Waldrand zurück. Dann sah sie den Turm vor sich, grau und düster vor dem dämmernden Abendhimmel.
    Für ihren Vater, der auf einer Burg aufgewachsen war und sein früheres Leben an Höfen und in steinernen Festungen zugebracht hatte, war dies ein ärmlicher Ort. Für Libuse aber bedeutete es das einzige Zuhause, das sie kannte.
    Der Turm war aus Holz gebaut, aus dicken, festen Stämmen. Genau genommen hatte das Bauwerk mehr Ähnlichkeit mit einem Haufen aneinander gelehnter Baumstämme als mit einem echten Gebäude. Erst bei näherem Hinsehen waren die vereinzelten Fenster zu erkennen, so schmal wie Schießscharten, und die Tür, die eine Mannslänge über dem Boden ins Holz eingelassen war und nur über eine schmale Treppe zu erreichen war.
    Corax von Wildenburg war ein Kämpfer gewesen, bevor er sich mit seiner Tochter in die Wälder zurückgezogen hatte, ein Ritter im Dienste edler Herrn. Den Instinkt, sich im Notfall verteidigen zu können, hatte er nie ganz ablegen können, obschon er von sich behauptete, kein Ritter mehr zu sein und Blut nur noch während der Jagd zu vergießen.
    Eine Hand voll Krähen hockte auf den Vorsprüngen und Kanten in den unregelmäßigen Wänden des Turms. Einige stießen schnarrende Schreie aus. Ein Fuchs stob von rechts nach links durch den Schnee und verschwand wieder in de n W äldern. Die meisten Tiere schienen zu wittern, dass ihnen hier keine Gefahr drohte, denn Libuse und ihr Vater jagten niemals so nah am Haus.
    » Ich will den Tod nicht vor meiner Tür «, hatte Corax gesagt, als Libuse alt genug gewesen war, ihn zum ersten Mal auf die Jagd zu begleiten. Sie hatte sich gefragt, ob das nicht selbstverständlich sei. Damals hatte sie noch nicht viel über die Vergangenheit ihres Vaters gewusst.
    Der Schneestreifen zwischen Turm und Waldrand maß etwa zwanzig Schritt. Sie rannte darüber hinweg, blinzelte die nassen Schneeflocken aus den Augen und stieg vorsichtig die Treppe zur Tür hinauf. Sie hatte die zehn Stufen am Morgen mit Asche aus der Feuerstelle bestreut, damit sich niemand auf dem vereisten Holz die Knochen brach. Doch inzwischen ging schon die Sonne unter, und die Asche war längst von frischem Schnee bedeckt.
    Normalerweise rief sie nach ihrem Vater, wenn sie zur Tür hereinkam, doch heute Abend ließ ihr schlechtes Gewissen sie schweigen. Es konnte ihr nur recht sein, wenn sie ihm nicht gleich nach ihrer Heimkehr unter die Augen treten musste.
    Vielleicht war er gar nicht zu Hause, sondern jagte noch irgendwo in den Wäldern. Doch es wurde langsam dunkel und Corax von Wildenburg hasste die Dunkelheit.
    Libuse durchmaß die untere Halle mit raschen Schritten. Durch die schmalen Fensteröffnungen fiel der letzte Dämmer des Tages, ein Großteil des Raumes lag in Finsternis. Stützbalken spannten sich als schwarze Streifen durch das fahle Grau. In der Feuerstelle glommen nur noch ein paar rote Funken, deren Schein kaum über die steinerne Umrandung hinausreichte.
    Libuse entzündete in der ganzen Halle die Kerzen, für den Fall, dass ihr Vater tatsächlich jetzt erst nach Hause käme; er wurde ungehalten, wenn ihn das Haus mit Dunkelhei t e mpfing. » Zu viele Schatten «, pflegte er zu sagen. Auch deshalb hatte sie dem Eber den Namen Nachtschatten gegeben, denn ihr Vater mochte das Tier nicht. Damals hatte sie sich kämpferisch gefühlt, aber Corax hatte nur stumm den Kopf geschüttelt, als sie ihm mit trotzig vorgerecktem Kinn davon erzählt hatte.
    Kerzenschein erhellte den Tisch mit den beiden Stühlen unweit der Feuerstelle. Der Kessel mit Suppe, den sie am Morgen vorbereitet hatte, stand bereit, um am Haken über dem Feuer eingehängt zu werden. Bevor sie die Treppe hinauf nach oben lief, schürte sie die Flammen. Ihr Vater würde hungrig sein, wenn er heimkam. Ihr selbst war der Hunger vergangen.
    Die beiden Kammern im ersten Stock waren die seinen. In der kleineren schlief er, in der anderen bewahrte er Dinge auf, die aus der Zeit vor seinem Rückzug in die Wälder stammten. Waffen und Rüstzeug; Kleidung, wie er sie bei Hofe getragen hatte; allerlei Werkzeug, das nicht mehr in den überfüllten Schuppen passte, in dem er die meiste Zeit des Tages
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