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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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verbrachte; außerdem schwere lederne Codices und Schriftrollen, viele mit arabischen Zeichen beschrieben. Ihr Vater hatte Libuse das Lesen und Schreiben gelehrt, denn er verstand sich auf die Schriften des Abend- und Morgenlandes. Er hatte lange genug in den Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land gelebt, um die Sprache der Ungläubigen zu erlernen und ihre Schriften zu lesen; jedoch weigerte er sich, Libuse in diesen Zeichen zu unterweisen. Latein, gewiss, sogar ein Hauch von Griechisch, wie man es im alten Reich von Byzanz gesprochen hatte. Doch das Arabische verweigerte er ihr, und natürlich interessierte sie sich gerade deshalb dafür am meisten. Womit sonst, außer mit Suppekochen, sollte sie sich den lieben langen Tag in dieser Einsamkeit beschäftigen? Durfte er sich da wundern, wenn sie sich die Zeit mit dem Erdlicht und den Tieren des Waldes vertrieb?
    Er sagte oft, sie sei störrisch wie ein Esel und sturer als der älteste Ziegenbock. Außerdem widerborstig wie … nun, wie ein erwachsenes Weib. Wobei ihm entgangen zu sein schien, dass sie eben dies längst war. Erwachsen. Eine Frau.
    Im zweiten Stock des Turms lag ihre eigene Kammer, gleich unterhalb der Zinnen. Hier gab es keine Tür, die Stufen führten durch den Raum und endeten vor der Luke, durch die man hinauf auf die Plattform gelangte.
    Zwei Dutzend Augenpaare starrten Libuse an, als sie die Kammer betrat. Vierundzwanzig Masken aus Lehm und Holz und Stroh gefertigt, manche bemalt, andere in irdenem Braun oder Grau. Sie hingen an den Wänden und Balken, einige verstaubt, weil sie nie von ihren Haken genommen wurden, andere abgegriffen von häufigem Anfassen. Da ragten Äste heraus wie Hahnenkämme , Bä rte oder bizarre Dornenkronen; dort waren sie mit Kieselsteinen, Tannenzapfen und Baumrinde verziert.
    Libuses Masken. Ihre Vertrauten. Ihre Freunde.
    Sie grüßte sie, machte jedoch auf der Treppe nicht Halt, sondern hob mit beiden Händen die Luke nach oben. Schnee rieselte ihr entgegen. Ein eiskalter Windstoß öffnete den Fächer ihres flammend roten Haars wie das Feuer unten in der Halle. Mit einem leisen Fluch stieg sie hinaus auf das Dach des Turms, ein Quadrat von fünf mal fünf Schritt, dick verschneit. So weit oben war der Wind noch viel stärker, pfiff über die Tannenwipfel und fegte Schleier aus Eiskristallen heran. Der Schneefall hatte wieder nachgelassen, ein ewiges Hin und Her, als könne sich der Winter nicht entscheiden, ob er die Eifel unter sich begraben wolle oder nicht. So ging das schon seit Wochen.
    Im Osten hatte sich der Himmel längst schwarz gefärbt, während im Westen die Schneewolken sachte zu glühen schienen, ein milchiges Rotgrau, das die Umrisse der Berge rahmte. Die Sonne war jenseits der Wälder versunken, aber noc h r eichte ihre Kraft, um den Horizont zum Leuchten zu bringen, selbst bei diesem Wetter.
    Libuses Blick suchte ihre Spur im Schnee, aber es war bereits zu düster am Fuß des Turms, um die Fußstapfen von hier oben aus zu erkennen. Das Gesicht des Mönches kam ihr wieder in den Sinn, vor Schreck verzerrt, als er hinterrücks in die Senke stürzte. Er musste längst zurück im Kloster sein, nass und schmutzig und sicher mit einer Menge Schwierigkeiten, die er sich durch seinen Ausflug in die Wälder eingehandelt hatte. Es sei denn, er hatte sich eine gute Ausrede zurechtgelegt. Aber dazu war er gewiss zu dumm und ungeschickt.
    Sie schaute nach Norden, wo sich jenseits der Schlucht das Kloster befand. Eine waldige Hügelkuppe verdeckte den Blick darauf. Wollte man dorthin gelangen, musste man einen weiten Umweg in Kauf nehmen, denn die Klamm, über die die römische Wasserleitung verlief, ließ sich nur mühsam durchqueren. Nach der Schneeschmelze würde es dort wieder Sturzbäche geben. Irgendwann würden wohl die Wassermassen die Stützpfeiler des Aquädukts mitreißen und das mürbe Konstrukt zum Einsturz bringen. Als Kind hatte sie einmal versucht, darauf zu klettern, doch ihr Vater hatte sie zurückgerissen und ihr klar gemacht, dass sie mit solcherlei Spiel ihr Leben riskierte. In der Zwischenzeit, beinahe zehn Jahre später, mussten die Steine noch brüchiger geworden sein, der uralte Mörtel aus den Fugen gebröckelt. Außerdem mochte der lange dunkle Tunnel über den Abgrund hinweg wilden Tieren als Unterschlupf dienen, denen nicht mal Libuse begegnen wollte.
    » Hier bist du also. «
    Die Stimme ihres Vaters ließ sie herumwirbeln.
    » Ich war im Wald «, sagte sie und merkte sogleich, wie
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