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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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abwehrend sie klang. Als hätte sie etwas zu verbergen. Sie war eine so erbärmliche Lügnerin.
    » Was hast du den ganzen Nachmittag getrieben? «, fragte er.
    » Nachtschatten «, sagte sie rasch, obgleich sie wusste, dass ihm auch dies nicht gefallen würde. » Ich war mit Nachtschatten unterwegs. «
    » Ein Wildschwein ist kein Freund für ein Mädchen. «
    » Kennst du einen besseren? «
    Er sah sie ernst an, dann lächelte er plötzlich. » Du bist bissig geworden wie eine Schlange. «
    » Und du besorgt wie eine Glucke. Ich kann selbst auf mich aufpassen. «
    » Ja «, murmelte er beinahe ein wenig widerwillig, als fiele es ihm schwer, sich das einzugestehen. » Ich weiß. «
    Corax von Wildenburg war ein Riese. Viele Jahre lang war er der einzige Mann gewesen, den Libuse gekannt hatte, und als er sie schließlich mit zum Kloster genommen hatte, war sie erschüttert gewesen, wie klein und schmächtig die Mönche dort waren. Bis sie allmählich begriffen hatte, dass nicht der Körperbau der frommen Männer ungewöhnlich war, sondern vielmehr der ihres Vaters. Manchmal kam es ihr vor, als sei er doppelt so groß wie sie, immer noch; sie wusste, dass dies nicht stimmte, und doch erschien es ihr, als überrage er sie so hoch wie der Turm, wenn man unten am Eingang stand. Sah man nur Corax ’ Umriss, so wie jetzt als Silhouette vor dem grauen Abenddämmer, konnte man meinen, er trüge einen Harnisch, so breit wirkten seine Schultern. Und obwohl er bereits das fünfzigste Jahr überschritten hatte, besaß er noch immer die Kraft eines Bären.
    Er hatte weißes Haar, das ihm bis auf die Schulter fiel, und einen grauen, kurz geschnittenen Bart, durch den sich eine einzelne schwarze Strähne von der Unterlippe bis zum Kinn zog. Gezackte Falten lenkten den Blick auf seine Augen, die so stählern blau waren wie der Himmel an einem eiskalten Wintermorgen. Er trug ein ledernes Wams, das sich über seinem gewaltigen Brustkorb spannte, Beinzeug mit gekreuzte n N ähten und einen Umhang aus Schafsfell und Leder. Sein Haar war trocken, ohne eine Spur von Eis. Also war er bereits zu Hause gewesen, als Libuse kam.
    Sie hatte Mühe, seinem bohrenden Blick standzuhalten. Hatte er den Schein des Erdlichts von hier aus beobachtet? Reichte es so weit hinauf in die Bäume? Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal, und sie fragte sich, ob das der Grund war, weshalb er stets über ihre Beschwörungen Bescheid zu wissen schien, auch wenn er es nicht aussprach. Seine Augen hatten im Alter nicht gelitten, wie überhaupt sein ganzer Körper nur ganz allmählich erste Anzeichen von Gebrechen zeigte.
    Er musterte sie noch ein paar Herzschläge länger, dann trat er mit einem Ruck an ihr vorbei, legte beide Hände in den Schnee auf die Brüstung und blickte hinaus in die näher rückende Nacht.
    » Ich habe in der Halle die Kerzen angezündet «, sagte sie und betrachtete ihn aufmerksam von der Seite. » Mach dir keine Sorgen wegen der Dunkelheit. «
    » Das ist es nicht. «
    » Aber über irgendwas machst du dir Gedanken. Das kann ich sehen. «
    » Die Wälder sind in Aufruhr. «
    Sie runzelte die Stirn. War nicht sie diejenige, die das hätte feststellen müssen? Ein Stich durchzuckte sie, fast ein Anflug von Eifersucht. Das waren ihre Wälder. Die Bäume, die Tiere, der Wind im Laub – das waren ihre Gefährten, ihre Geschwister.
    Unsinn, sagte sie sich dann. Er lebt genauso lange hier wie du. Er kennt die Wälder ebenso gut.
    Aber er versteht sie nicht. Er hört nicht auf ihre Stimmen.
    » Es sind Wanderer dort draußen «, sagte er, ohne den Blick von den Hügeln zu nehmen. » Und Reiter. Die einen laufen davon. Die anderen folgen ihnen. «
    Im schwächer werdenden Licht bot sich die Landschaft als formlose Zusammenballung aus Schwärze und vereinzeltem Schneeschimmer dar.
    » Wie kommst du darauf? «
    » Ich habe Spuren entdeckt «, sagte er. » Im Westen. Zwei Menschen zu Fuß, in einem ziemlichen Zickzack, so als hätten sie sich verlaufen. «
    » Hast du sie gesehen? «
    Er schwieg eine Weile, dann nickte er langsam. » Von weitem. «
    Sie legte eine Hand auf die seine. Die Haut fühlte sich an wie Eis.
    » Was ist los, Vater? Warum sagst du es mir nicht? «
    » Nachdem ich sie gesehen hatte, bin ich hier heraufgestiegen. Und da hörte ich das Schnauben eines oder mehrerer Rösser, sehr weit entfernt. Dann schneite es wieder heftiger, und alles wurde still. Ich denke, die Reiter lagern jetzt irgendwo. «
    » Und du denkst, sie
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