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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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verfolgen die Wanderer? «
    » Die beiden hatten es eilig, das konnte ich an ihren Spuren sehen. Sie haben mehrfach die Richtung gewechselt, wahrscheinlich haben sie im Schnee die Orientierung verloren. Aber sie haben keine Rast gemacht, sie sind immer weitermarschiert. «
    » Wer waren sie? «
    » Sie waren vermummt. «
    Kein Wunder bei dem Wetter. » Glaubst du, sie wollen zur Abtei? «
    » Wohin sonst? «
    Zu uns, lag ihr auf der Zunge, doch das verkniff sie sich. Vielleicht wirkte ihr Vater so besorgt, weil er dieselbe Vermutung hatte. Fast als fürchtete er, nicht die Wanderer könnten eingeholt werden, sondern er selbst. Von seiner Angst.
    Der letzte Schimmer am Horizont verblasste.
    Corax atmete tief durch. » Lass uns nach unten gehen. « Ins Licht, aber das musste er nicht aussprechen. Trotz seiner hünenhaften Statur, seines behänden Geistes und seiner Ausbildung zum Kämpfer gab es eines, das Corax von Wildenburg mehr fürchtete als den Leibhaftigen selbst – die Nacht. Das Dunkel. Vollkommene, lichtlose Schwärze, wie sie in diesen Augenblicken zwischen den Bäumen emporkroch.
    Einmal, nur einmal, hatte Libuse miterlebt, was die Finsternis ihm antun konnte. Als verstörtes, zitterndes Bündel hatte er am Boden gekauert, kaum in der Lage, zu sprechen. Das war vor vielen Jahren gewesen. Seitdem sorgte sie dafür, dass es im Turm niemals ganz dunkel wurde. Nie wieder wollte sie ihn in einem Moment absoluter Schwäche erleben. Sein Anblick, seine verstörten, leichenblassen Züge hatten sich zu tief in ihre Erinnerung geätzt.
    Damals hatte sie ihn gefragt, woher seine Angst rührte. Doch sie hatte keine Antwort erhalten. Wie auf so vieles andere auch. Auf die Fragen nach ihrer Mutter beispielsweise. Libuse wusste nur, sie war rothaarig gewesen wie sie selbst. Corax war ihr fern von hier im Morgenland begegnet, und dort war sie gleich nach Libuses Geburt gestorben. Corax war mit dem Kind in seine Heimat zurückgekehrt, hatte seine Ritterwürde abgelegt und sich in diesen Winkel der Wildnis zurückgezogen.
    » Wenn die Wanderer unterwegs zum Kloster sind, dann sind sie vielleicht Mönche «, schlug sie vor, um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen.
    » Möglich. «
    Die Kälte tat jetzt so weh an ihren Fingern, dass sie die Hand zurückzog. Seine aber blieb unverändert auf der Zinne liegen.
    » Vater «, sagte sie sanft. » Deine Hand. «
    » Hmm? « Er blinzelte verwundert, blickte dann auf seine Linke herab und hob sie aus dem Schnee. Er ballte sie zur Faust, als wollte er einen Stein zwischen den Fingern zerquetschen . Dann drehte er sich abrupt zur Luke um. » Komm «, sagte er, » ich habe den Kessel übers Feuer gehängt. Die Suppe müsste bald heiß sein. «
    Sie nickte und folgte ihm die Stufen hinunter. Die Luke fiel hinter ihr zu, und abermals stob Schnee auf sie nieder.
    Mitten in ihrer Kammer stand ein irdener Kerzenleuchter, den Corax jetzt aufhob; er musste ihn auf dem Weg nach oben dort abgestellt haben. Der wandernde Lichtschein erweckte die Masken an den Wänden zum Leben. Der Blick leerer Augenhöhlen folgte den beiden auf ihrem Weg nach unten, bis das Kerzenflackern mit ihnen verschwunden war und zwei Dutzend Augenpaare zurück in die Finsternis sanken.
    DAS MÜNDEL DES MAGISTERS
    S c hritte rissen Aelvin aus dem Schlaf. Ein Traum von Schnee und Eis zerschmolz in seiner Erinnerung. Obwohl im Kamin des Infirmariums ein Feuer brannte, fröstelte er.
    Mit Ausnahme seines eigenen Lagers war das Krankenquartier unbenutzt. Sechs Betten gab es in dem lang gestreckten Raum, drei auf jeder Seite. Aelvin lag in einem der beiden hinteren. Am gegenüberliegenden Ende, neben der Tür, befand sich die offene Feuerstelle, in der Flammen über glühende Holzscheite tanzten. Auf der anderen Seite des Eingangs standen mehrere Regale mit Tiegeln und Schalen, ein Tisch voller Codices und ein dreibeiniger Schemel. Bruder Marius, der Heil- und Kräuterkundige der Abtei, hatte sich vor einer Weile in seine Zelle zurückgezogen, nachdem Aelvin ihm versichert hatte, dass es ihm an nichts fehle. Beim Gedanken an den gutmütigen Marius meldete sich Aelvins schlechtes Gewissen wenig und nagte arg an der Genugtuung über das Gelingen seiner trefflichen List.
    Er rieb sich die Augen. Horchte.
    Schritte, die vor der Tür der Kammer verharrten.
    War sein Betrug aufgedeckt? Kamen sie, um ihn zu holen? Abt Michael würde ihn womöglich davonjagen, sogar in der Nacht, wenn er erfuhr, dass Aelvin gelogen hatte.
    Odo
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