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Das Buch der Gleichnisse

Das Buch der Gleichnisse

Titel: Das Buch der Gleichnisse
Autoren: Per Olov Enquist
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unerträglich, aber jetzt kam es ihm durch die Stimme des singenden Mädchens nicht als etwas Schönes vor, sondern als eine ziemlich grausame, vibrierende Frage, wie wenn im Bethaus auf der Säge gespielt worden war, von den Fuchsschwanzvirtuosen, etwas Vorwurfsvolles, das ein wenig weh tat. Es war völlig still in der Kapelle, er merkte, dass er den Blumenstrauß so hart umfasste, dass er gleichsam zusammengequetscht wurde. »Vielleicht finden wir einander, vielleicht finden wir dann eine Möglichkeit, alles zum Blühen zu bringen« , nein, das konnte es nicht sein, was war es, was war es? Er war durch eine ausgeschnittene Anzeige hierhergerufen worden, und dies mit dem Lied war die einzige Botschaft, aber sie war ja tot. Tot! »Sturm geht da draußen und schließt des Sommers Tür, zu spät ist’s zu suchen und zu fragen. Ich liebe vielleicht weniger als früher, doch mehr, als du je könntest sagen.«
    Das Mädchen sang den Refrain sehr still, blickte auf den Sarg, streichelte den Deckel behutsam mit der Hand und ging zurück und setzte sich.
    Da, vielleicht. Doch mehr, als du je könntest sagen . »Schreib einen Brief, wenn ich tot bin.«
    Was hätte er können sagen? Welchen Weg sie in ihm genommen hatte? Welchen Weg er in ihr genommen hatte? Ob sie vielleicht den Weg ineinander genommen hatten. Aber das war ja unsinnig.
    Musste es denn einen Sinn ergeben?
    Sie gingen nach vorn, einer nach dem anderen, und legten ihre Blumen auf den Sarg. Dann gingen sie hinaus. Sie sahen ihn an, als sie vorbeigingen. Es war vielleicht sonderbar, dass er dort saß. Er empfand es als quälend. Er konnte sich nicht rühren. Er starrte geradeaus.
    Er blieb sitzen.
    Der Pastor, wenn es denn ein Pastor war, blieb einige Minuten dort vorn stehen, es schien, als danke er dem Mädchen, das gesungen hatte. Dann ging er. Es war nicht mehr viel zu tun. Die fünf Tulpen, natürlich. Er kam sich müde und lächerlich vor. Es gab etwas in dieser ganzen Geschichte, der Geschichte, die einmal Ende der vierziger Jahre angefangen hatte, es gab etwas darin. Aber er bekam es nicht zu fassen. Vielleicht gab es nichts zu fassen. Eile, beeil dich zu lieben. War das eine Botschaft von ihr, so bekam er sie nicht zu fassen. Sie war ja tot. Tot. Allerdings dieses Letzte: mehr als du je könntest sagen .
    Schreib einen Brief, wenn ich tot bin.
    Das Mädchen kam zum Ausgang. Die Kapelle war leer. Sie waren jetzt vollkommen allein. Sie blieb vor ihm stehen, sah ihn scharf an und sagte:
    »Ich kenne Sie aus dem Fernsehen! Sie sind Schriftsteller, das sehe ich doch!«
    Er sah sie an, lächelte und sagte:
    »Danke für das Lied. Es war schön!«
    »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen! Und ich habe Sie sofort erkannt!«
    Was sollte er sagen? Sie hatte sich auf die Bank vor ihm gesetzt, den Körper nach hinten gedreht. Sie hatte ein neugieriges Funkeln in den Augen und sagte noch einmal:
    »Sie sind es! Ich weiß es. Ich habe Ihnen die Anzeige geschickt. Über den Verlag. Also haben Sie sie bekommen! Was für ein Glück, dass Sie sie bekommen haben, nicht? Es war wichtig.«
    Sie sah ziemlich nettig aus und lachte beinahe für sich selbst, oder auch über ihn.
    »Sie hatte mich darum gebeten. Sie sagte, es wäre wichtig.«
    »Wieso das«, fragte er, obwohl er nicht wusste, ob er es wissen wollte.
    »Ja also sie bat mich darum, bevor sie starb. Ich sollte zwei Dinge für sie tun, ich sollte Ihnen diese Todesanzeige schicken, wenn sie gestorben wäre, und dann sollte ich das ›Herbstlied ‹ singen. Das war ihr wichtig. Nur dies. Ich war die Einzige in der Familie, die engeren Kontakt mit ihr hatte, aber sie und ich, also ich mochte sie, sie war ja so freimütig. Kannten Sie sie?«
    Was sollte er sagen? Er dachte, ich halte den Mund, und das ist auch eine Erklärung oder auf jeden Fall ein Übergang, und sie hatte kein Recht, ihn zu verhören , also antwortete er nicht. Sie runzelte die Stirn, als sei sie unzufrieden mit ihm, und sagte:
    »Ich habe Sie sofort aus dem Fernsehen erkannt!«
    »Jaja«, sagte er leise, »das lässt sich ja nicht abstreiten.«
    »Es war gar nicht so einfach mit dem Brief! Die Adresse des Verlags herauszufinden! Aber sie wollte es unbedingt. Und Tante Ellen und ich hatten ja ein, also, wir mochten uns, ich war wohl die Einzige, mit der sie wirklich reden konnte! So richtig.
    »Schön«, sagte er unsicher. »Schön.«
    »Haben Sie sie wirklich gekannt?«
    Ein Friedhofsangestellter war hereingekommen, blieb stehen, als er ihn und das
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