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Schwaben-Filz

Schwaben-Filz

Titel: Schwaben-Filz
Autoren: Klaus Wanninger
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1. Kapitel
    Mitten im Wüten der Wasserwerfer nahm er das seltsame Geräusch zum ersten Mal wahr. Verzweifelt um Luft ringend, das Gesicht in panischer Angst ins Kissen gepresst, schreckte er aus dem Schlaf. Er hatte Mühe, sich aus seiner erstarrten Haltung zu lösen, sein ganzer Körper, Arme, Brust und Beine schienen gelähmt, vom Würgegriff der gerade wieder erlebten Gewaltszenen in Beschlag genommen. Beide Teile seines Pyjamas klebten schweißnass an seinem Leib. Ihm fehlte die Kraft, sich von dem grauenvollen Geschehen zu lösen, nur langsam, allzu langsam fand er in die Wirklichkeit zurück. Das schrille Quietschen einer alten Schranktür, dem Anschein nach in unmittelbarer Nähe seines Zimmers, durchbrach die nächtliche Stille.
    Er hatte geträumt, lange und intensiv, seit Wochen immer wieder dasselbe Geschehen. Der Albtraum wollte kein Ende nehmen, Nacht für Nacht. Das Wüten der Wasserwerfer, mit Schlagstöcken und Pfefferspray aggressiv angreifende Uniformierte, die verzweifelten Schreie der wehrlosen Opfer. Aus Zufall war er in den Park gekommen, seine gehbehinderte Mutter im Arm. Er hatte ihr versprochen, ihr beim Umsteigen noch einmal den Schlossgarten in all seiner Pracht zu zeigen, bevor er den Baggern zum Opfer fallen sollte. Mühsam humpelnd, Schritt für Schritt hatten sie das von unzähligen Menschen bevölkerte Gelände erreicht.
    »Diese uralten Bäume wollen sie …«
    Gerd Weissmann hatte das ungläubig in die Umgebung gerichtete Gesicht seiner Mutter unmittelbar vor Augen, erlebte das grauenvolle Geschehen Sekunde für Sekunde wieder mit. Der plötzlich, ohne jede Vorwarnung auf sie gerichtete Strahl des Wasserwerfers, der sie mitten im Augenblick ihrer Verwunderung von den Beinen holte und ihn mitsamt der verzweifelt nach Halt suchenden alten Frau auf den harten Asphalt warf, die von der Seite her plötzlich auf sie einstürmenden, vollständig vermummten, militärisch anmutenden Gestalten. Vom Schock des Überfalls wie gelähmt, war er endlich dabei, sich wieder aufzurichten und seiner laut schreienden Mutter zu Hilfe zu eilen, als ihn der Schlag mitten ins Gesicht traf. Für den Augenblick einer Sekunde hatte er die Besinnung verloren, er taumelte zur Seite, wurde erneut von einem Knüppel niedergestreckt. Hilflos nach Luft schnappend, fiel er auf den Boden, in einem Höllenstrudel unaufhörlicher Gewalt versinkend. Er wusste nicht mehr, wie ihm geschah, sah sich wieder von den alten, längst verschüttet geglaubten Bildern eingeholt, die er in seiner Kindheit in einem wahren Albtraum exzessiver Gewalt hatte erleben müssen. Die von blinder Wut verzerrte Miene des Vaters seines Freundes, der Pesthauch des Alkohols, der dem Atem des Alten entströmte, die unaufhörlich auf den jungen Körper wie die längst auf den Boden niedergestreckte Mutter einprasselnden Schläge …
    Stoßweise atmend, mit den Händen durch die Luft rudernd, von Schweißausbrüchen gezeichnet kam er Nacht für Nacht zu sich, die Träume samt den Tag verfluchend, die das alte Erlebnis wieder in ihm hatten wach werden lassen. Und jeden Morgen aufs Neue sehnte er die Möglichkeit herbei, dem Ganzen ein Ende zu setzen – so wie damals, als die alte, versoffene Bestie in einem Hagel tödlicher Schläge endgültig zu Boden gegangen war.
    Erneut vernahm er das seltsame Geräusch, ähnlich dem Tapsen von Füßen auf alten Holzdielen, er versuchte, die Schatten der Traumwelt von sich zu schieben und in die Wirklichkeit einzutauchen. Es war noch dunkel, nicht einmal ein Hauch des neuen Tageslichts war zu erahnen. Er versuchte, die Umrisse des kleinen Zimmers zu erkennen, hörte jetzt deutliche Schritte im angrenzenden Raum. War sein Freund aufgestanden, um sich etwas zum Essen oder Trinken zu holen, oder war er einfach erwacht und fand jetzt nicht mehr in den Schlaf? Er dachte an die gemeinsamen Erlebnisse der vergangenen Jahre und war sich darüber im Klaren, dass schon ein Bruchteil davon genügte, die nächtliche Ruhe zu rauben.
    Das Knarzen einer Türklinke riss ihn aus seinen Gedanken, katapultierte ihn in die Realität zurück. Er schob seinen Oberkörper vorsichtig in die Höhe, versuchte, sich im Zimmer zu orientieren. Das Oberteil des Pyjamas klebte an seinem Rücken, von den Schweißausbrüchen der vergangenen Stunden völlig durchnässt, Morgen für Morgen das gleiche unangenehme Gefühl. Er riss sich den Stoff vom Leib, griff nach dem Handtuch, das auf dem Nachttisch bereitlag, wischte sich die klebrige
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