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Das Buch der Gleichnisse

Das Buch der Gleichnisse

Titel: Das Buch der Gleichnisse
Autoren: Per Olov Enquist
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Mundlippen. Er hörte intensiv zu und versuchte, zusammenzulegen, aber die Gedenkrede handelte hauptsächlich von einem Charakter aus einem Guss , und dass sie ein empfindsamer Mensch gewesen sei, und dass, obwohl sie immer allein gelebt und sich vielleicht auch einsam gefühlt hatte, diejenigen, die sie gekannt hatten, sich mit Freude an sie erinnerten; man konnte annehmen, dass der Pastor, wenn er denn ein Pastor war, sich nicht allzu viel Mühe gemacht, sondern sich eher auf ein Telefongespräch verlassen hatte. Es ging dann in mehr allgemeinere Worte über das Wesen der Liebe über, und dass wir jetzt in Freude ihres Lebenswerks, vor allem im Kirchenvorstand von Södertälje, gedenken sollten.
    Er saß auf einem Stuhl, es waren keine richtigen Kirchenbänke. Eher Bethausbänke.
    Wie viel Zeit seines Lebens hatte er nicht auf Bethausbänken zugebracht. Zuerst auf den richtigen und geistlichen, dann auf den körperlichen. Das Problem war vielleicht, dass er zu viel über Den Sinn nachgegrübelt hatte, wie eine am Fliegenfänger festklebende Fliege.
    Aber all die Sünden, die er nicht begangen hatte! Musste er nun auch die entbehren!
    Es war komisch, das Gesicht dort vorne an der Stirnseite des Sargs zusammen mit den anderen zu fixieren. Wenn sich die Mundlippen jetzt bewegten. Die Vorstellung, dass all die anderen, vielleicht zweiundzwanzig, dasselbe Gesicht betrachteten und mehr über sie wussten als er selbst, erfüllte ihn mit einer Art Eifersucht. Hartnäckig starrte er das Foto an. Braune Haare, nettige Augen, ängstliche Augen? Dass es immer noch so intensiv war, wenn auch gewissermaßen wie ein weißes Papier, ohne erklärende Worte, und so würde es sicher bleiben, und der Pastor, wenn es denn ein Pastor war, klappte die Mappe zu, aus der er gelesen hatte, und wandte sich dem Mädchen zu, das zum Schluss mit dem Fahrrad gekommen war.
    Und nickte. Da stand sie auf, stellte sich neben den Sarg und legte die Hand darauf.
    »Tante Ellen« , sagte sie mit einer Stimme, die ein wenig angespannt klang, dann räusperte sie sich, » hat dieses Lied von Tove Jansson sehr geliebt, und sie wollte nur ein einziges Lied auf ihrer Beerdigung, aber es sollte dieses sein. Und bevor sie starb, bat sie mich, es zu singen. Denn es enthielte eine Botschaft, meinte sie.«
    Sie sah patent aus und hatte den Schalk in den Augen, obwohl sie sich zusammennahm und wohl auch ein wenig nervös war. Er konnte sehen, dass einige der Anwesenden nickten, gleichsam erwartungsvoll oder positiv, und dann begann das Mädchen zu singen. Sie trug einen roten Pulli, schwarze Jeans und Turnschuhe. Wie alt mochte sie sein? Fünfzehn? Sie begann vorsichtig, aber sie hatte eine sehr schöne und klare Stimme, und nach einer Weile schien ihre Nervosität nachzulassen, und sie sang a cappella, ohne Begleitung, und ihre Stimme war gerade richtig für die kleine Kapelle.
    Er kannte es ja, es war das » Herbstlied« von Tove Jansson. »Sehr lang der Weg nach Haus und niemanden traf ich, die Abende werden jetzt kühl und spät. Komm, tröste mich ein wenig, denn ich bin ziemlich müde, und auf einmal so entsetzlich allein« , ihre Stimme immer klarer, und sie hielt die Hand auf dem Sargdeckel, als wolle sie den Sarg streicheln, ein wenig trösten, wie einen Hund, und sah die ganze Zeit auf die Fotografie. »Ich merkte nie zuvor, wie groß das Dunkel ist, ich denk an all das, was man sollte. So viel hätt ich sollen sagen und tun, und so wenig hab ich getan.« Es war ja komisch, oder wahr, er merkte, dass er sich vorgebeugt hatte, als gelte es, besser zu verstehen, und dass dies sich in den Körper fortsetzte; der Rücken tat fast weh.
    Das Lied handelte von allem, was man nicht getan hat.
    Genau das, woran er gedacht hatte! Oder hatte er an die Bethausbänke oder den Brennholzkasten im Bethaus gedacht, er fühlte fast ein wenig Panik. Unverwandt starrte er auf das Foto an der Schmalseite des Sargs, als erwarte er, dass die Lippen sich zumindest zu einem halben Lächeln öffneten, oder als könne das Lied aus der Fotografie kommen, die schwarzweiß war, aber auf der keine Bewegung andeutete, dass sie versuchte, eine Botschaft auszusprechen, obgleich das Mädchen jetzt so intensiv sang. »Eile, Geliebter, eil dich zu lieben, die Tage werden dunkler mit jedem Moment. Zünd an unsre Lichter, die Nacht ist so nahe, bald ist der blühende Sommer zu End.« Er hatte früher gefunden, dass dieses finnische Lied ein wenig zu schön oder sentimental war, fast
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