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Ein paar Tage Licht

Ein paar Tage Licht

Titel: Ein paar Tage Licht
Autoren: Oliver Bottini
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ALGIER, ALGERIEN
27.   SEPTEMBER 1995
    An dem Tag, als sein Vater verschwand, spielten sie im Stadion von Bologhine, Djamel und ein Dutzend Freunde aus dem Viertel und noch einmal so viele aus dem nahen Bab el Oued. Schweigend waren sie über die Mauer geklettert und auf dem Kunstrasen ausgeschwärmt wie sonst die Spieler von USM Alger und deren Gegner. Die Mannschaften standen seit jeher fest: die aus Bologhine gegen die aus Bab el Oued. Während über der Bucht von Algier die Dämmerung heraufzog, rannten sie zwischen den Toren hin und her, Djamel so stumm wie die anderen, nur hin und wieder waren ein leiser Ruf oder ein verhaltenes Stöhnen zu hören. Seit die bewaffneten islamischen Gruppen und die Islamische Heilsfront den Kampf gegen den Staat aufgenommen hatten, verhielt man sich beim Spielen besser still.
    »Und dein Vater?«, raunte Aziz, der Torwart. »Kommt der heute nicht?«
    Djamel zuckte mit den Schultern.
    Manchmal kam der Vater nach, dann ertönte irgendwann ein Pfiff, und oberhalb der Mauerkrone winkten seine energischen Hände. Sie mussten ihm hinüberhelfen, drei auf der einen, drei auf der anderen Seite, und Aziz sagte dann immer: Uff, Sie sind aber schwer geworden, ya si-Mouloud , und Djamels Vater erwiderte: Das ist das Alter, du Nichtsnutz, das zerrt an mir und wiegt für zwei. Das Alter war rund wie ein Fußball, nur deutlich größer, und sprengte dem Vater die Knöpfe von den Hemden.
    Auch Djamels Großvater war ein paarmal mitgekommen, um zuzusehen, wenn er hier spielte, im Stadion zwischen dem Meer und den Toten vom europäischen Friedhof, der sich jenseits der Westtribüne am Hang hochzog bis zur katholischen Basilika. Der fremde Großvater, der vor drei Jahren vom Himmel gefallen und vor einem Jahr dorthin zurückgekehrt war … Eines Tages hatte der Vater gesagt: Sie töten auch die Ausländer, ich flehe dich an, verlasst Algerien! Und so war der Großvater mit seiner deutschen Frau über das Meer zurückgeflogen nach Deutschland, das in ganz Bologhine und sicher auch in Bab el Oued verehrt wurde, weil es den Volkswagen Golf erfunden hatte.
    »Schnell, Djamel, schnell!«, stieß Aziz hervor, und er rannte, was die dünnen Beine hergaben. Wie so oft reichte es nicht. Keuchend blieb er stehen, während sich die aus Bab el Oued schweigend in die Arme sanken.
    Niemand machte ihm einen Vorwurf. Er war noch nicht zwölf, das war das Problem. Seit jeher wuchsen den Benmedis erst mit zwölf Muskeln und Fleisch und Kraft an den Knochen, hatte sein Vater gesagt, und keinen Tag früher, da kannst du unsere Ahnen durchgehen bis zum Jahr 960, als Bologhine ibn Ziri das schöne Algier gegründet hat: Alle sind sie auf zwei Streichhölzern über die Fußballplätze der Zeiten gelaufen, bis sie zwölf waren, und erst dann zu unbezwingbarer Pracht erblüht.
    Und der Großvater hatte gesagt: Ein Benmedi hat es sogar in die erste algerische Nationalmannschaft geschafft.
    In die Nationalmannschaft? Wer?
    Na, ich, Djamel. Und einmal hätte ich beinahe ein Tor geschossen.
    Der Vater und der Großvater waren nicht die Einzigen, die hin und wieder zuschauten bei seinen Spielen im »kleinen San Siro«. Auf den beiden Tribünen sah Djamel an manchen Tagen die Toten vom europäischen Friedhof sitzen, die Christen und die Juden. Aber sie klatschten und jubelten nicht, auch sie blieben stumm.
    Heute waren die Toten in ihren Gräbern geblieben, die Tribünen leer, und der Vater kam nicht.
    Draußen, auf dem Boulevard de l’Emir Khaled, stockte der Verkehr. Erschöpft trotteten sie an den Autos entlang, die sich nicht einen Millimeter voranbewegten. Die stadteinwärts führende Spur war dagegen verwaist. Vielleicht ein Unfall, wie so oft, oder einer der Mächtigen kehrte nach ein paar luxuriösen Tagen im Club des Pins mit Eskorte in die Stadt zurück.
    Rechts begann die lange Promenade, hinter der nachts die Welt zu enden schien. In der Dunkelheit dahinter leuchteten die Positionslichter geheimnisvoller Schiffe, darüber die Sterne. Unter dem am weitesten entfernten Stern, so stellte Djamel es sich vor, wohnten der Großvater und seine deutsche Frau.
    Die Stimme eines Muezzins erklang, und sie beschleunigten ihre Schritte. Sie hätten längst zu Hause sein müssen, in der Dunkelheit wurden die Straßen gefährlich. In Bologhine hatten die Bärtigen noch nicht zugeschlagen, aber in Bab el Oued war vor wenigen Wochen eine Bombe explodiert. Djamel kannte einen, der einen kannte, der dabei Freunde verloren
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