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Ein paar Tage Licht

Ein paar Tage Licht

Titel: Ein paar Tage Licht
Autoren: Oliver Bottini
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Richter?«
    »Aber es ist doch niemand hier!«
    »Es wird jemand kommen.«
    »Wer, Toni? Al-Qaida?«
    Toni nickte, es schien ihn Kraft zu kosten. »Sie müssen sich entscheiden. Wer eine Waffe hat und schießt, auf den wird auch geschossen.«
    Richter spreizte abwehrend die Finger. Seine Arme waren schwer, ließen sich kaum noch bewegen, sein Puls raste. Er hörte Ahmeds Stimme, der wieder Algerisch sprach, mitten im Raum stehend, den Blick nach oben gerichtet, als betete er zu seinem Gott. Aber er sprach nur zu dem halbrunden Kameraauge, das über ihm in der Decke eingelassen war.
    Vier Minuten, dachte er. Vier Minuten, und alles ist gut.
    Ahmed verschwand hinter seinen Lidern.
    Er wurde hochgerissen und hart gegen die Wand gestoßen.
    »Nicht ohnmächtig werden!«, sagte Toni.
    Er schüttelte den Kopf, wollte wach bleiben, aber er spürte seine Beine nicht mehr, sank wieder zu Boden. Die Dunkelheit übermannte ihn, alles wurde still.
    Ein Schlag ins Gesicht holte ihn zurück, er riss die Augen auf. Wieder zerrte Toni ihn hoch. »Sie sind da!«
    »Was?«
    Ein Ruf erklang, gedämpfte Schüsse fielen. Ahmed hockte jetzt unter dem Gottesauge auf den Fersen, der Kopf hing reglos nach vorn, ein letztes Gebet. Tonis Gesicht schob sich in sein Blickfeld, die Augen kalt und leer. Die Hände lagen an seinen Wangen, er spürte Lauf und Kolben der MAC . Ewigkeiten schienen zu verstreichen. Tonis Gesicht verschwamm immer mehr, der Griff wurde fester, hielt ihn im Licht.
    »Die wollen Sie lebend, okay?«
    Richter schüttelte den Kopf, konnte nicht aufhören damit. Ein Traum, er träumte.
    »Ihre Firma wird zahlen, Sie werden freikommen.«
    »Wer?«, hörte er sich krächzen.
    Über ihnen waren Schritte zu hören, jemand rannte dort oben. Von der Wohnzimmertür erklang die Stimme eines Mannes, der etwas auf Algerisch rief. Toni schien antworten zu wollen, aber dann sagte er: »Denken Sie dran, die brauchen Sie lebend. So finanzieren sie sich, durch Entführungen. Ihre Firma wird zahlen, Sie werden freikommen. Vergessen Sie das nicht. Sie werden es durchstehen.«
    »Und Sie?«
    Richter spürte ein Achselzucken. »Ich muss jetzt arbeiten.«
    »Nein!« Es gelang ihm, die linke Hand zu heben, auf die Pistole zu legen. Er spürte Tonis knochige Finger, das kühle Metall. Er sah nichts mehr, hatte vielleicht die Augen geschlossen, vielleicht waren es Tränen. »Lassen Sie mich nicht allein, bitte …«
    Wieder die fremde Stimme, diesmal von weit her, fast genauso weit entfernt Toni, der auf Algerisch antwortete.
    »Bitte, Toni …«
    »Richten Sie Sadek aus, dass ich aus der Hölle zurückkomme, um ihn zu holen.«
    »Nein!« Er presste die Hand auf die Waffe, ließ den Kopf schwer dagegen sinken. »Toni, bitte …«
    Die letzten Kräfte waren verbraucht, die Beine gaben nach.
    Die Dunkelheit holte ihn.

2
    BERLIN
    Fünfzig also. Der Countdown hatte begonnen.
    Sein Urgroßvater war mit neunundfünfzig gestorben. Der Großvater mit siebenundfünfzig. Der Vater mit vierundfünfzig. Die Wegners des 20.   Jahrhunderts gingen in ihren Fünfzigern, und sie gingen immer früher.
    Reinhold Wegner öffnete die Augen, sog den Duft des doppelten Espresso ein, den die mächtige Maschine vor ihm zubereitete. Er stand in der Küche der Firmenvilla in Lichterfelde West, ließ den nackten, von Alkohol und sechs Stunden Schlaf erhitzten Körper in der Zugluft auskühlen, sein Wundermittel gegen den Kater: Kälte.
    Fünfzig Jahre.
    Mit fünfzig hatte sein Vater schwarze Steine ausgehustet.
    Er selbst war anders. Lebte nicht wie seine Vorväter, die sich und die Ihren mit Schwerstarbeit durchgebracht hatten, Kohle gefördert oder Steine aufeinandergeschichtet oder Bäume geschlagen hatten.
    Doch das war es nicht allein. Im selben Moment, als die Grube über ihnen geschlossen worden war, hatte die Welt ihre Gesichter vergessen, und ihre Namen waren verklungen. Niemals hatten sie mehr als das Nötigste besessen, niemals Anerkennung erfahren. Vom ersten bis zum letzten Atemzug bedeutungslos, fünfzig Jahre und ein paar wenige mehr. Die Welt hatte sie nicht gebraucht, und wer nicht gebraucht wurde, der starb eben früh.
    Ihn dagegen brauchte man.
    Man kannte ihn in aller Herren Länder, besonders den sandigen, windigen, heißen. Nicht in der Öffentlichkeit natürlich, sondern dort, wo es drauf ankam: in den schattigen, schallisolierten Hinterzimmern der Macht. Die Ströme der Waren und des Geldes mussten gelenkt werden, und darauf verstand er sich
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