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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
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Stehkragen war makellos weiß und sein mit drei Knöpfen versehenes
Anzugjackett aus dunklem Tuch durfte als topmodisch gelten. Dann drehte er den
Kopf und erkannte mit einem kleinen Überraschungsschrei seine älteste Freundin. »
Sally !«
Er reichte ihr beide Hände. Sie ergriff sie und beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.
»Was ist denn bloß passiert?«, fragte Sally Goldberg. »Ist Adelaide -«
     
»Sie liegt im Bett. Sie darf nicht aufstehen. Ich erzähle dir -«
    Er hielt inne, da er merkte, dass sich ein Kellner mit einem Tablett, auf dem Becher
und ein Krug mit Wasser aus der hiesigen Heilquelle standen, in ihre Nähe gestellt
hatte.
    »Du bist zu gesund für dieses fade Zeug«, sagte Jim zu Sally, »und ich bin zu krank.
Bestellen wir lieber etwas Kräftiges.« Und zum Kellner gewandt: »Fleischbrühe,
bitte.« Der Mann murmelte etwas und eilte davon. »Wie hat er dich genannt?«,
erkundigte sich Sally. »Baron. Kein Witz, das bin ich wirklich. Das war ungefähr das
Letzte, was Adelaide tat, ehe der Kampf begann. Es war ... Ich konnte einfach nicht
ablehnen. Und sie als Königin hatte das Recht, mir die Adelswürde zu verleihen. Als
man mich in Andersbad wieder zusammenflickte und dann hierher schickte, war ich
die ganze Zeit über bewusstlos. Man hatte nur das Ordensband an meinem Hals, um
mich zu identifizieren. So ein Orden macht den Kellnern Beine, kann ich dir sagen. In
London heiße ich wieder Jim. Aber was führt dich hierher? Ich dachte, ihr wäret
noch in Amerika?«
    »Wir sind früher zurückgekehrt als geplant. Und das Erste, was ich las, war das hier.«
Sie holte einen gefalteten Zeitungsausschnitt aus ihrer Handtasche. »Ich habe dem
Medizinischen Institut in Andersbad telegrafiert, und man sagte mir, wohin man
dich verlegt hat. Und jetzt bin ich hier.«
Er nahm den Zeitungsausschnitt und las:
     
Das Ende eines alten Königreichs Die Cockney Queen ist verschwunden Flucht des
Roten Adlers
    Nach neuesten Meldungen ist das Königreich Raska-wien vom Deutschen Reich
annektiert worden. Das kleine Land von der Größe der Grafschaft Berkshire ist seit
1253 ein unabhängiger Staat, doch nachdem es dort vor einigen Tagen zu inneren
Unruhen gekommen war und der raskawische Hof in der Person des Baron von Gödel
ein Hilfeersuchen formulierte, sah sich die Führung des Deutschen Reiches zum Eingreifen
veranlasst.
Ein
Regiment
pommerscher Grenadiere
hat
die
Hauptstadt
Eschtenburg besetzt. Ferner laufen Verhandlungen über den Beitritt des Landes in
den deutschen Zollverein und über eine spätere Verwaltung durch Berlin. Raskawien
stand vor sechs Monaten anlässlich der Krönung des letzten Königs Rudolf II. im
Zentrum des
allgemeinen
Interesses.
Wie
sich unsere
Leser vielleicht
erinnern
werden,
wurde
Rudolf
bei
dieser Zeremonie
Opfer eines
Anschlags,
und
seine
Ehefrau, eine gebürtige Engländerin, nahm seine Stelle ein. Königin Adelaide regierte
sechs Monate lang als rechtmäßige Thronerbin. Seit einigen Tagen ist sie in der
Hauptstadt nicht mehr gesehen worden. Seither fehlen verschiedene Kostbarkeiten
aus dem raskawischen Staatsschatz, darunter das Staatsbanner.
Jim zerknüllte wütend das Papier und warf es auf den Boden.
     
»Das liest man jetzt überall! Damit unterstellt man ihr, sie sei mit fetter Beute
getürmt. Verdammte Lügner sind das ...«
    »Das habe ich mir auch gedacht«, pflichtete ihm Sally bei. »Ich habe übrigens Frau
Winter mitgebracht; sie ist gerade bei Becky. Aber du solltest mir jetzt alles erzählen.«
    »Mama, du darfst nicht glauben, was in den Zeitungen steht. Glaube mir, deiner
Tochter. Ich war schließlich dabei. Oh, um ein Haar hätte es geklappt, Mama! Nur
ein weiterer Tag und der Vertrag über unsere Sicherheit und Unabhängigkeit wäre
unter Dach und Fach gewesen! Das Volk liebte sie, und wenn du gesehen hättest,
wie wir gekämpft haben - am Ende ...« Frau Winter löste ihre Hände aus Beckys und
strich die Decke glatt, die Becky vor Aufregung durcheinander gebracht hatte.
    »Ich werde ihr nie verzeihen, dich in Gefahr gebracht zu haben. Wenn ich gewusst
hätte -«
»Mama,
du
musst
ihr
verzeihen,
wenn
du
weiterhin
mit
mir
reden
möchtest. Sie konnte nur führen, wenn das Volk bereit war, ihr zu folgen. Und nicht
sie hat die Gefahr heraufbeschworen, sie wurde verraten. Hast du die Zeitungen
gelesen? Ich hätte nie gedacht, dass Journalisten so etwas schreiben können. Ich
dachte,
das
wäre
verboten,
Zeitungen
wären
verpflichtet,
die
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