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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
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schrecklichen
Schere in der erhobenen Hand
    Die Tischkante traf die Frau wie ein Fallbeil direkt im Nacken und warf sie sofort
nieder. Die Scherenklingen kamen einen Zoll vor Beckys Hals zum Stehen. Dann
herrschte Stille - nur das leise Tropfen der ausgelaufenen Flüssigkeit war zu hören.
Becky konnte sich nicht bewegen.
Ihre Beine lagen unter dem Körper der Frau begraben.
     
Carmens Kopf lag verdreht in Beckys Schoß, auf dem Nacken der Frau lastete die
Kante des schweren Tisches.
    Becky sah, dass Carmen Ruiz tot war. Sie selbst spürte jetzt den Schmerz wie eine
Welle durch ihren Brustkorb laufen. So heftig wurde er, dass sie nicht einmal
stöhnen konnte. Bald würde Hilfe kommen.
    Ihre linke Hand war eingeklemmt, aber ihre rechte lag in ihrem
Schoß neben
Carmens Wange. Die Wange war nass, das Gesicht der Frau tränenüberströmt. Ohne
nachzudenken
wischte
Becky
die
Tränen
ab.
unglaublich
weh
...
Sie verlor
zeitweise das
Oh,
diese Schmerzen!
Es
tat
so
    Bewusstsein
und
fiel
in
einen
schlafähnlichen Zustand. Traumszenen stellten sich ein wie die Spukbilder bei einer
Vorführung mit der Later-na magica, Bilder, die aufleuchteten und verblassten oder
ineinander übergingen ... Sie stellte sich Carmen Ruiz vor, wie sie in die Klinik
eindringt und die Kleiderkammer der Krankenschwestern sucht, dort eine Tracht
findet, sich rasch verkleidet und dann in der Patientenliste nachschaut, wohin sie zu
gehen hat. Sie sah Prinz Leopold, wie er durch die leeren Gänge des Schlosses
taumelt
und
die
Türen
der
kalten,
verwaisten
Zimmer
aufreißt
und
nach
der
Dienerschaft ruft, die geflohen ist, die Gespenster seiner Kindheit. Sie sah die
Brettspiele, die sie mit Adelaide, der Blechprinzessin, gespielt hatte, die Würfel,
Spielmarken und Schachfiguren, die nun Staub ansetzen. Sie sah die Ladenbesitzer in
der Altstadt, wie sie die Scherben der zerbrochenen Schaufensterscheiben von der
Straße kehren, und sie sah Gräfin Thalgau, in Schwarz gekleidet, ihr breites Gesicht
von
Gram
zerfurcht,
wie sie die persönlichen
Dinge des
Grafen
bedachtsam
wegräumt. Sie sah auch die Studenten des Richterbundes, die sich still im Cafe
Florestan versammeln und auf Nachricht von Karl und Gustav und all denen warten,
die doch in Wirklichkeit ihr Leben gelassen hatten. Sie stellte sich den deutschen
General vor - nun der Gouverneur oder Provinzstatthalter oder welchen Titel er
sonst trug -, einen scharfsinnigen, höflichen, mitleidlosen Mann - so zumindest
malte sie ihn sich in ihrer Phantasie aus -, wie er Hofbeamte ins Schloss beordert
und ihnen Ämter und Aufgaben überträgt und jeden gerecht behandelt nach den
nun geltenden neuen Gesetzen. Sie sah den Vorsteher der Standseilbahn, wie er ein
paar Handlanger anweist, den schweren Balken vor den Rädern des Wagens fortzuschaffen. Sie sah, wie morgens Büros und Restaurants geöffnet werden, Schreiber
ihre Federn in die Tinte stippen, Kellner mit blütenweißen Servietten Staubkörnchen
fortwedeln.
Sie
sah
Kinder,
die
ihren
stolzen
Vater
küssen,
sie
sah,
wie
Brot
gebacken, Kaffee geröstet und Bier schäumend in irdene Krüge gezapft wird. Sie sah
eine leere Fahnenstange, zu deren Spitze niemand emporschaut. Sie sah neue
Zeitungen an den Ständen ausliegen, die von den Kunden gekauft und begierig
gelesen werden. Sie sah einen jungen Mann zu Pferd, einen Arm in der Schlinge, wie
er
einen
Waldweg
entlangreitet.
Sie
sah
einen
hünenhaften
Mann
mit
narbenübersäten Händen und dunklem Schnauzbart, wie er seinen Feldstecher
einem Gefährten reicht und durch Kiefern hindurch auf ein kleines verschneites Fort
zeigt. Sie sah eine Höhle in den Bergen, drinnen flackert ein Feuer, an die Felswände
sind Gewehre gelehnt und im Schein der Flammen leuchtet eine alte goldgelbe
Fahne.
    Doch das waren alles nur Traumbilder. Als schließlich ein vorübergehender Arzt
durch die offene Labortür schaute, bot sich ihm ein höchst befremdender Anblick:
eine tote Frau,
den
merkwürdig
verdrehten
Kopf
im
Schoß
eines
schlafenden
Mädchens.
Stammtafel des raskawischen
Herrscherhauses
(Monarchen in Großbuchstaben)
     
MICHAEL VI.
(1812-1836)
verh. Sophia von Schwartzberg
(gest. 1840)
    LEOPOLD II.
(1836-1852)
verh. Caroline
(gest. 1857)
Heinrich
(gest. 1868)
verh. Augusta
(gest. 1872)
    WILHELM IV.
(1852-1882)
verh. Mathilde
(gest. 1875)
Michael
(gest. 1880)
verh. Teresa Alois
(gest. 1880)
    Leopold
(1842-?1874)
verh. Carmen Ruiz
(geb. 1836)
Wilhelm
(1850-1882)
verh. Anna
(gest. 1882)
RUDOLF
(1854-1882)
verh.
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