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Die Spur der Kinder

Titel: Die Spur der Kinder
Autoren: Hanna Winter
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Dienstag,9. Juni
    Anne riss sich los und sprang aus dem Wagen. Sie rannte. Ganz gleich, wie sehr ihr das Gestrüpp die nackten Beine zerkratzte. Ihre goldenen Riemchensandalen schnitten mit jedem Schritt in die Haut. Sie hastete die Böschung hinter dem Parkplatz hinunter und blieb nicht eher stehen, bis das Scheinwerferlicht des Wagens von der Dunkelheit geschluckt worden war. Nach Luft ringend, machte sie halt und stützte sich auf ihren Knien ab. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und im fahlen Schein des Mondlichts zeichneten sich die Umrisse von Büschen und Bäumen ab. Erst als sich ihr Atem wieder beruhigt hatte, nahm Anne die Stille wahr, die sie auf einmal umfing. Dann ein Knacken im Unterholz. Erschrocken drehte Anne sich um.
    Da ist nichts.
    Vorsichtig tastete sie ihre Shorts nach ihrem Handy ab.
    Weg . Beide Hosentaschen waren leer. Mist!
    Annesah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Forst ragte wie eine schwarze Wand hinter ihr empor. Zögerlich wandte sie sich wieder um und lief weiter bis zu einer großen Lichtung. Auf keinen Fall wollte sie – still!
    Wieder war da ein Knacken hinter ihr, dieses Mal deutlich näher. Das war kein Tier. Das waren schwere, stampfende Schritte, die abrupt wieder verstummt waren.
    »Lars?«
    Nichts.
    »Lars?« Annes Rufe verhallten in der Nacht. »Wenn das wieder einer deiner schlechten Scherze sein soll, dann …«
    Sie hielt plötzlich inne, als sie aus der Ferne einen Laut vernahm.
    Was zum Teufel war das?
    Dann hörte sie es erneut. Seltsame Laute, wie von einem gequälten Tier. Erst jetzt bemerkte Anne die entlegene Bungalowsiedlung am anderen Ende der Lichtung, als hinter ihr plötzlich etwas aus den Büschen schnellte. Anne schreckte zurück und stolperte über einen Ast. Sie musste lachen.
    Nur ein Kaninchen, nichts weiter als ein verängstigtes Kaninchen.
    Sie stand auf und klopfte den Schmutz von ihrer Shorts, da hörte sie es wieder: feste, zielstrebige Schritte. Dann ein schweres Atmen. Direkt hinter ihr. Anne wagte es nicht, sich ein weiteres Mal umzudrehen,sondern rannte los, rannte querfeldein über die hügelige Wiesenlandschaft. Noch weniger als achtzig Meter bis zur Siedlung. Wie ferngesteuert trugen ihre Beine sie immer weiter. Als sie endlich den nächstgelegenen Bungalow erreichte, hämmerte sie mit aller Kraft gegen die Tür.
    »Hallo! Ist da jemand?«
    Keine Antwort. Anne warf einen Blick über die Schulter. Die Häuser schienen wie ausgestorben. Die reinste Geistersiedlung . In einem etwas abseits gelegenen Bungalow, an den bereits das nächste Waldstück grenzte, erspähte Anne ein schwaches Licht. Irgendetwas ließ sie zögern, bevor sie sich schließlich dem Haus näherte.
    Schau nicht zurück. Lauf einfach nur weiter. Schnell.
    Nie wieder wollte sie sich mit Lars streiten, dachte Anne noch, als sie durch ein Lilienbeet zum Bungalow eilte und erneut wie wild gegen die Tür schlug.
    »Hallo? Machen Sie auf! Bitte!«
    Niemand öffnete. Als sie ein weiteres Mal dagegenhämmerte, sprang die Tür auf.
    »Hallo? Kann ich hier mal telefonieren?«, fragte Anne in den menschenleeren, kargen Raum hinein, der lediglich durch das Flimmern eines Fernsehers und das schummrige Licht einer Stehlampe beleuchtet wurde.
    Keine Antwort. Zögerlich sah Anne sich um. Eine notdürftig eingerichtete Küchenzeile. Kaffeebecher,bis oben hin voll mit Zigarettenstummeln. Auf einem verschlissenen Sofa lagen altmodische 70er-Jahre-Frauenkleider und ein Kordanzug. Daneben Kinderschuhe und stapelweise Videokassetten. Und ein giftgrüner Plastik-Dinosaurier, der nagelneu aussah und das Einzige war, das nicht hier hereinpasste. Ein Telefon war nicht in Sicht. Und da war er wieder: ein knapper Schrei, dumpf und deutlich zugleich. Ganz nah, als stünde jemand mitten im Raum.
    »Ist da wer?«, flüsterte Anne mit zittriger Stimme, als sie langsam auf das Hinterzimmer zuging. Der Boden knarrte unter ihren Füßen. Und obwohl sich alles in ihr verkrampfte, versuchte Anne, sich hinter der Tür ein beschauliches Szenario vorzustellen, etwa eine liebende Mutter mit einem Kind im Arm.
    Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt. Doch was sie im Schein des hereinfallenden Mondlichts erkannte, war alles andere als beschaulich. Auf einem Campingtisch lagen rostige Sägen, schmutzige Küchenhandtücher, Klebeband, eine Kordel. Auf dem Boden darunter zeichnete sich ein großer dunkler Fleck ab. Anne verzog das Gesicht.
    Ist
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