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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
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das
schlaue Biest brachte mir eine deutsche Zeitung. Aber ich habe sie getäuscht. Ich
kann nämlich Deutsch besser lesen als Englisch. Ich weiß jetzt, was man über mich
schreibt.«
»Aber das sind doch alles Lügen. Jeder weiß das.«
     
»Jeder, der dort war, weiß das. Aber für alle anderen bin ich doch eh nur die
Cockney Queen, eine Hochstaplerin ...«
     
»Die sich durchmogelt.«
    »Die klaut und noch vieles mehr. Eben ein billiges Mädchen von der Straße. Ich muss
mich zusammennehmen, Jim, sonst werde ich wütend. Mein Herz beginnt schon
schneller zu schlagen.«
    Ohne auf seine eigenen Wunden zu achten, setzte sich Jim neben sie aufs Bett und
hielt sie mit seinem linken Arm, während er die rechte Hand auf die zarte Brust
legte, wo ihr Herz unruhig schlug. Er fühlte es wie ein Vogel in einem Käfig. »Das tut
gut«, sagte sie.
»Ich habe einen Plan, um die Wahrheit an den Tag zu bringen«, sagte er nach einer
Weile.
     
»Welchen?«
    »Ich
werde ein
Buch
schreiben.
Keinen
Schauerroman,
sondern
ein
seriöses,
historisch fundiertes Buch über die Verhandlungen und den Vertrag. Ich stütze mich
dabei auf alles, was du mir zum Thema sagen kannst und woran sich Becky erinnern
kann, und dann gehe ich nach Wien und rede mit der österreichischen Seite. Dann
schreibe ich alles nieder. Ich schildere, wie du hintergangen wurdest und was dann
mit der Fahne geschah. Das wird auch Otto helfen. Ich unterstütze seinen Anspruch
auf den Thron, indem ich zeige, wie die Fahne auf ihn übergegangen ist.«
Sie lehnte sich schweigend an ihn. Ihr Atem wurde langsamer und regelmäßiger, und
als er zu ihr hinabschaute, waren ihre Augen geschlossen. Er bewunderte ihre fein
gebogenen dunklen Wimpern, die wie Malerpinsel auf dem seidigen Flaum ihrer
Wangen lagen. Ihr üppiges duftendes Haar bewegte sich leicht, als er ausatmete.
Nun, dachte er, das sollte für jetzt genügen. Neben ihr zu sitzen und sie im Arm zu
halten, war schon genug. Kurz darauf schlief auch er ein.
    Ein Stockwerk tiefer schauten die Ärzte noch einmal die Krankenblätter durch, ehe
sie mit der Abendvisite begannen; die Köche rührten Saucen an, rollten Teig aus und
schnitten Gemüse klein; die Musiker trafen einer nach dem anderen ein für das
Abendkonzert in der Trinkhalle; die Masseure und Pflegerinnen kümmerten sich um
die letzten Patienten für diesen Tag. Die elektrische Beleuchtung der Eisbahn ging
an, und Männer mit Besen fegten das Eis für die Schlittschuhläufer, die später am
Abend kommen und ihre Bahnen auf der Eisfläche ziehen würden, stets von kleinen
Atemwolken begleitet.
    Der Inspektor für Wasserqualität war mit der täglichen Analyse fertig und schloss
gerade das Labor ab. Im Kellergeschoss im Pumpenraum betätigten Arbeiter Ventile,
wodurch das Wasser aus dem Brunnen in die Tanks der Abfüllanlage geleitet wurde.
Einmal gefüllt, standen sie für die Frühschicht bereit.
    Im Schalterraum der Dampfschifffahrtsgesellschaft wollte man ebenfalls gerade
schließen, und der Fahrkartenschaffner, der ein Problem mit einem Fahrgast hatte,
war froh, die Angelegenheit an seinen Vorgesetzten weitergeben zu können.
    »Sie ist von Friedrichshafen gekommen und behauptet, ihre Fahrkarte verloren zu
haben. Ich sage ihr, dass sie zahlen muss, so steht es in den Statuten. Aber sie behauptet, schon auf der deutschen Seite bezahlt zu haben. Darauf sage ich -« »Schon
gut. Wo ist sie jetzt?«
    Der Schaffner wies mit dem Kopf zum Wartesaal, wo das Problem auf einer Bank
saß: eine schlecht gekleidete Frau, vielleicht Anfang vierzig, eine auffällige Erscheinung
mit
dunklen
Augen
und
dunkler
Gesichtsfarbe, vielleicht
Italienerin
oder
Spanierin. »Wissen Sie, die Sache ist die«, fuhr der Schaffner fort, »ich glaube nicht,
dass sie überhaupt Geld bei sich hat. Sie lässt es darauf ankommen. Wenn Sie mich
fragen -«
»Ich frage Sie aber nicht«, fertigte der Vorgesetzte den Schaffner ab und öffnete die
Tür zum Wartesaal. »Gnädige Frau, wir schließen jetzt. Wie ich höre, haben Sie Ihre
Fahrkarte verloren.«
    Die Frau schien sich von etwas loszureißen, was sie beschäftigte. Sie machte einen
irgendwie abwesenden Eindruck, als sei sie zwischen zwei Welten hin- und hergerissen. »Ja?«
Sie stand auf und wartete, dass der Vorsteher etwas anderes sagte.
    »Also, Sie können ein Formular ausfüllen und ...« Er zögerte. Je länger er die Frau
betrachtete, desto seltsamer schien sie ihm. Mit Sicherheit war sie geistig nicht
normal, das sah er jetzt. Und
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