Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
dafür würde es später noch genug Zeit geben. Jeder der beiden hatte den gleichen Eindruck, als ob sie ihre Gedanken teilten:
dass Gefängnismauern eingestürzt waren und dahinter eine offene Landschaft lag;
dass Ketten von ihnen gefallen waren; dass die Verfolgung ein Ende hatte. Sie waren
frei. »Setz dich doch neben mich«, lud sie ihn ein. »Ich glaube nicht, dass ich meine
Beine so hoch heben kann. Es braucht noch einige Zeit, bis wir geheilt sind.«
Er zog mit Mühen einen Stuhl ans Bett und setzte sich, ihre Hand haltend.
     
»Ich habe kein Geld, Jim. Ich kann das hier nicht bezahlen. Ich weiß nicht, was
passiert, wenn -«
     
»Ich habe welches. Mach dir keine Sorgen.«
     
»Woher? Bist du reich?«
    »In erster Linie beim Spiel gewonnen. Und mit Schreiben und der Detektivarbeit
verdiene ich auch ein paar Kröten. Du wärest erstaunt. Ich habe genug, bis wir beide
auskuriert sind. Dann kann ich wieder Geld verdienen gehen. Das muss ich sowieso,
wenn wir heiraten wollen.«
»Wollen wir das? Wann haben wir das beschlossen?«
     
»Im
Schlafwagen.
Du
wirst
es
dir
doch
wohl
nicht
anders
überlegen,
das
ist
verboten.«
     
»Also gut.«
     
Sie saß, von einem Glücksgefühl durchströmt, still da. Die Lichter des Dampfers
zogen langsam durch das Dunkel in Richtung Friedrichshafen am deutschen Ufer.
    »Jim«, sagte sie. »Du musst mir jetzt ehrlich antworten. Ich sollte auch Becky fragen,
ja, das werde ich auch ganz sicher tun. Ich bin doch eine Königin gewesen, oder?«
»Ja.«
»Und habe ich es gut gemacht?«
     
»Ein besseres Oberhaupt, ob König oder Königin, hätten sie nicht finden können. Du
warst großartig.«
     
»Gut. Ich dachte, ich wäre es, nur ... Meinst du dann, ich sollte zurückgehen und
kämpfen? Oder eine Königin im Exil sein? Oder stehe ich jetzt am Ende?«
»Erinnerst du dich an den Kampf am Wendelstein?«
    »Ich erinnere mich an die Kälte. An den Schnee in den Stiefeln. Und an die Fahne,
die wir in einem Steinhaufen aufpflanzten ... Und an den Zwetschgenschnaps des
Unteroffiziers, hoffentlich geht es ihm gut. Und an den armen alten Grafen ... Und
an Otto, der wie ein Wirbelwind auftauchte. Ich dachte zuerst, er wäre ein Gespenst. Nannte er mich nicht Cousine?«
»Richtig. Erinnerst du dich an den Schuss, der dich getroffen hat?«
     
»Nein. Nur an einen lauten Knall und alles war weg.«
    »Du bist auf die eine Seite gefallen, gerade in meine Arme, und die Fahne auf die
andere. Du hieltest sie hoch. Als du sie dann losließest, kam Otto und ergriff sie.
Weiß Gott, der Mann ist wirklich ein Riese. Er schwenkte die Fahne über seinem
Kopf, als wäre sie ein Taschentuch. Das war das Letzte, was ich gesehen habe.«
»Dann ist er jetzt der Adlerträger!«
»So sieht es aus.«
     
»Und ich bin nicht mehr ... Ich bin frei. Oh, Gott sei Dank!«
     
»Warst du denn nicht gern Königin?«
    »Ich liebte es, die Macht zu haben, etwas politisch zustande zu bringen ... die
Diplomaten zu überzeugen, den Vertrag zu schließen. Das habe ich genossen, Jim.
Das war großartig. Aber diese Zeremonien. Zum Würgen. Ich glaube nicht, dass ich
das lange durchgehalten hätte.« Sie lächelte.
»Warum grinst du denn so?«
    »Als ich noch ein kleines Mädchen war, ganz am Anfang in der Burton Street mit
Miss Lockhart und dir und Mr Garland, kam eines Tages Mrs Holland und stahl mich.
An dem Tag hatte ich mit dem alten Tremb-ler einen Spaziergang gemacht. Er wollte
mir
den
Bu-ckingham-Palast
zeigen.
Er
sagte,
wir
würden
bei
der
Königin
vorbeischauen und eine Tasse Tee mit ihr trinken, und ich glaubte das damals. Doch
als wir dort ankamen, wehte die Fahne, der Royal Standard, nicht über dem Palast.
Trembler sagte: >Ach du grüne Neune, jetzt ist sie schon ins Wochenende gefahren.
Na, das sieht ihr wieder ähnliche Und als ich dann Königin war, da dachte ich, es
wäre doch ein Spaß, eine Visite im Bu-ckingham-Palast zu machen. Aber diesmal in
aller Form: roter Teppich, Ehrenkompanie, das ganze Drum und Dran. Aber daraus
wird
vermutlich
nichts
mehr.«
»Du
hättest
dich
nicht
amüsiert.
Sie ist
ein
schrecklicher alter Besen, wie ich gehört habe. Ich hätte eher mit dem Kronprinzen
eine Zigarre geraucht und ein Schwätzchen gehalten.«
»Ja. Ihm hätte Andersbad sicherlich gefallen.« »Vorher müsste man allerdings das
Kasino aufmöbeln.«
    »Gut. Das machen wir ... Das heißt nein. Das ist jetzt alles vorbei. Jim, ich habe heute
in die Zeitung geschaut. Ich hab die Krankenschwester darum gebeten und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher