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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
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zur Ruhe kommen lassen?«, klagte
Becky. »Ich will wissen, wo sie ist! Ist sie tot oder lebt sie noch? Können Sie mir das
nicht sagen?«
    »Sie? Wen meinen Sie denn? Ich glaube, mein Fräulein, ich sollte Ihnen besser einen
Schlaftrunk verabreichen. Zu viel Aufregung ist in Ihrem Zustand -« »Die Königin!
Königin Adelaide! Ist sie tot oder lebt sie noch? Das müssen Sie mir sagen! Ich bin
die Sekretärin Ihrer Majestät, ihre Zofe, ihre Freundin - ach, es ist zu grausam! Sie
müssen es mir sagen!« Der Arzt wandte sich an die Krankenschwester. »Bitte holen
Sie mir
eine Baldriantinktur
aus
der
Klinikapotheke.
Und
einen
Papaverinsirup
dazu.« Kaum war die Schwester gegangen, legte der Arzt seine Hand auf Beckys
Stirn und sagte mitfühlend: »Sie lebt und wird bald in Sicherheit sein. Sie war schwer
verwundet: Die Kugel ging nur um Zollbreite an ihrem Herzen vorbei. Wir wissen
noch nicht, wie rasch sie sich erholen wird; wir bringen sie an einen anderen Ort.
Wenn wir sie hier behalten, wird man sie verhaften. Es waren bereits Polizisten aus
Deutschland hier, die im ganzen Spital nach ihr gefahndet haben. Außerdem war da
noch so eine Verrückte ... Fräulein?« Becky brauchte keine Baldriantinktur mehr; als
sie die Worte »in
Sicherheit«
hörte,
durchströmte sie eine solche Welle der
Erleichterung, dass ihre Nerven es nicht verkrafteten. Sie war fest eingeschlafen.
    Die Ärzte, die die Patienten in solche mit Überlebenschancen und solche ohne
eingeteilt hatten, hatten Adelaide ohne Zögern der zweiten Gruppe zugeordnet, sofern
sie
nicht
überhaupt
schon
tot
war.
Sie
legten
ihren
zerbrechlichen,
ausgekühlten Körper ins leere Dampfbad, und erst spät am Nachmittag bemerkte
jemand, dass noch Leben in ihr steckte. Ein Krankenwärter, der gerade einen Toten
für die Aufbahrung wusch, hörte ein leises Atemgeräusch im Raum. Er drehte sich
um und sah staunend, dass Adelaides Augenlider leicht zitterten, ihre Lippen sich
öffneten und ihre Finger sich rührten.
Neunzig Sekunden später fühlte ihr ein Arzt den Puls und zwei Minuten darauf
kamen zwei Oberärzte hinzu.
     
»Sollen wir operieren?«
     
»Ja. Und zwar sofort.«
     
»Und was dann?«
     
»Sie meinen - politisch gesehen?«
    »Ich habe erfahren, dass man sie noch gestern erschießen wollte. Sie konnte mit der
Fahne entkommen und hat sie dann an Schwartzberg weitergegeben. Wenn die
neuen Machthaber dahinter kommen -«
»In der Stadt herrscht Chaos. Nur der deutsche General gibt Befehle. So hat man es
mir jedenfalls berichtet.«
     
»Wenn die herausfinden, dass sie noch lebt -«
     
»Das Volk möchte sie zurückhaben. Sie ist ein Symbol der Freiheit des Landes - mehr
noch als die Fahne, meine ich.«
     
»Man wird sie zwingen, sich zu unterwerfen.«
     
»Das wird sie niemals!«
     
»Dann wird man sie einsperren und verhungern lassen. Die neuen Machthaber
können nicht zulassen, dass sie überlebt.«
     
»Und wir können sie nicht sterben lassen.«
     
»Ganz meine Meinung ... Was tun wir also?«
     
»Operieren.
Und
dann
lassen
wir
sie
heimlich
nach
Österreich
bringen.
In
Schwannhofers Klinik in Wien.«
     
»Die Schweiz wäre besser. Die Österreicher ...«
     
»Könnten sie als politisches Faustpfand benutzen. Ja, das Argument hat etwas für
sich. Ich kenne jemanden in Kreuzlingen; das St. Johann ...«
     
»Eine
ausgezeichnete
Adresse.
Gut,
dann
bringen
wir
sie
gleich
in
den
Operationssaal.«
    Vier Tage später saß Jim Taylor in einem Krankenstuhl und beobachtete die Eisläufer
draußen vor dem Fenster. Von seinem Platz aus sah man auf die Kolonnade, die zur
Trinkhalle von Kreuzlingen führte, dem auf der schweizerischen Seite des Bodensees
gelegenen
Städtchen.
Drinnen
Wasserdampf
und
Karbolgeruch.
herrschte
Sanatoriumsatmosphäre:
Stille,
    Farngewächse wucherten
üppig
in
gläsernen
Behältern, daneben standen Korbmöbel. Ein älterer Herr brauchte fast fünf Minuten, um mit viel Geraschel eine Seite seiner Zeitung umzublättern. Jim sah ihn böse
an. Durch die offene Tür waren Melodien von Strauß und Suppe zu hören, die ein
Streichertrio zum Besten gab, und der höfliche Applaus überdeckte das Geräusch
näher kommender Schritte. Eine blonde junge Dame im Fuchsmantel setzte sich auf
die gusseiserne Bank keine zwei Meter von Jim entfernt und wartete, dass er sich
umdrehen und sie ansehen würde. Er sah blass und mitgenommen aus. Über seinen
Knien
lag
eine
dicke
Decke.
Doch
das
strohblonde Haar
war
durch
Pomade
gebändigt, sein
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