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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers
Autoren: Philip Pullman
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Sie sah einen
Federbusch - einen Mann mit eisernem Gesicht - ein sich aufbäumendes Pferd, die
trampelnden Vorderhufe in der Luft.
    Sie sah eine zuckende Hand, den Handteller nach oben gekehrt, sah Finger sich
verkrampfen und wieder lösen, sah, wie sich die offene Hand binnen einer Minute
mit Schneeflocken füllte, wie mit Münzen, die einem Bettler hingeworfen werden.
Anfangs schmolzen sie noch, doch schon bald blieben sie liegen, bedeckten erst den
Handteller,
dann
die Finger und
Fingerspitzen,
bis
nur
noch
vier
Schatten
zu
erkennen waren und schließlich nichts mehr.
    Sie sah, wie sich Otto von Schwartzberg über einen Verwundeten beugte, ein Riese
neben einem Kind, wie seine breite Hand sich beruhigend um ihn legte und sein
mächtiger Arm ihn davontrug. Sie sah, wie derselbe Riese die Sehne seiner Armbrust
spannte, anlegte und schoss; sie hörte das Sirren des Pfeils und das laute Lachen des
Schützen, als er getroffen hatte.
    Sie sah einen breitschultrigen, rotgesichtigen Soldaten, der erstaunt bemerkte, wie
eine Schwertspitze durch Filz und Uniformtuch, Unterkleidung und Haut bis in seine
Brust drang, wo sie das Feuer seines Herzens zum Erlöschen brachte.
Sie sah, wie Jim blutverschmiert vom Felsen neben der Fahne sprang, mit seinem
Revolver zielte, feuerte, nochmals feuerte, den Hahn zum dritten Mal spannte und
schließlich die leer geschossene Waffe den Herankommenden ins Gesicht warf - sah
einen Gegner niedersinken - sah Jim sein Schwert ziehen, es in der Hand wiegen und
wie er dann erneut vorsprang, Hiebe austeilend und parierend, ein grauer Geist im
Kampf mit Schatten.
    Sie sah Blut; sie sah, wie sich ein kleiner Schneehaufen von innen rot färbte; sah
schwere Tropfen rot und warm in weiche Schneekissen fallen und dort dunkle
Löcher hinterlassen, die selbst wie Wunden aussahen. Sie sah, wie Graf Thalgau, der
den ganzen Mut eines alten Haudegens gegen den Feind aufbot, auch wenn ihn die
Kräfte
schon
verließen,
zu
Adelaide
aufschaute,
ihren
Dank
spürte
und
unerschrocken auch noch im Angesicht des Todes weiterkämpfte.
    Sie erinnerte sich an die Pistole in ihrer Tasche, holte sie unter Stöhnen hervor, hielt
sie mit beiden Händen und feuerte. Eine wilde Freude durchzuckte sie, als sie einen
Soldaten fallen sah.
    Sie sah, dass Adelaide getroffen wurde; ihr schien es, als habe sie die Kugel gesehen,
dieses kleine dunkle Etwas von der Größe einer Biene, das die Luft durchschnitt und
sein Ziel in Adelaides Brust fand. Sie sah helles Blut spritzen und eine blasse Hand
nach der Fahne greifen, sah, wie Jim Adelaide auffing, wie die Fahne sank und sich
wankend dem Boden zuneigte; sie sah, wie Otto herbeisprang, die Fahne ergriff und
sie mit einer Hand über seinem Kopf schwenkte, so dass er mit der anderen
ungehindert schießen konnte. Sie sah, wie Jim Adelaides hingestreckten Körper mit
dem Schwert verteidigte, seine Augen einer Katze ähnlicher denn einem Menschen,
dämonenhaft, grünlich lodernd vor Zorn. Selbst die Luft schien zu einem Gegner
geworden zu sein, so wütend hackte und stach er um sich; und der Himmel, die von
Flocken erfüllte Luft, schien ihn in einen Wirbel zu zwingen, als fielen Geisterscharen
über ihn her, hefteten sich an ihn, um ihn niederzuziehen.
    Dann folgte eine lang anhaltende Stille. Schneeflocken rieselten ununterbrochen
vom Himmel herab, füllten die Spalten in den Mauern, legten sich auf Augen und
Zähne, bedeckten himmelwärts gerichtete Gesichter mit einem zarten Schleier, aus
dem eine weiße Pierrotmaske und schließlich etwas Unkenntliches, ein weiches,
weißes
Nichts wurde. Das Blut, das nach Märchenart im Schnee erblüht
war,
verblasste bald zu Rosa, ehe es in Weiß aufging und verschwand. Soldaten und
Studenten, Leichen und Steine, Jäger und Pferde waren nur noch kleine Erhebungen
im Schnee. Doch dann erklangen Stimmen.
Erst hielt sie Becky für Träume oder Gesprächsfetzen aus einer anderen Welt, aus
dem Jenseits: »... fort ...«
     
»... hörte die Schüsse vom Bauernhof aus ...«
     
»... Graf Otto von Schwartzberg ...«
     
»... tot! So viele ...«
     
»... eine deutsche Uniform ...«
     
»... vom Zug dort unten ...«
     
»... die Königin ? Bestimmt nicht ...«
     
»... ein Adliger - schau - der Orden am Seidenband ...«
     
»... Atmen ? ...«
     
»... kann nicht mehr am Leben sein ...«
     
»... hol den Schnaps! Beeil dich ...«
     
»... krieg seine Hand nicht los ...«
     
»... klammert sich fest wie ein Affe - ja, wir sind Freunde - nimm
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