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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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R OT UM M ITTERNACHT
    E rzähl du mir nicht, wie mein Vater zu sein hat. Du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.«
    Brittas Worte waren immer noch da. Sie saßen tief in Wanja und breiteten sich aus, jetzt, wo alles still war. Und dann, ganz langsam, kamen die Ereignisse des Tages wieder in ihr hoch und zogen vorbei wie dunkle Wolken am Himmel.
    Schon am Morgen war alles schief gelaufen. Wanja hatte verschlafen und Jo, ihre Mutter, war noch hektischer gewesen als sonst. Alle paar Minuten kam sie in Wanjas Zimmer und trieb sie zur Eile an.
    »Ich mach ja schon«, fauchte Wanja, als Jo zum vierten Mal den Kopf zur Tür hineinsteckte.
Jo sah sie scharf an. »In zehn Minuten fahr ich los, mit dir oder ohne dich.«
»Mir doch egal.« Wanja verdrehte die Augen und griff nach ihrer Jeans. Wenn nur nicht dieser elende Schulweg wäre. Sie liebte das alte Fachwerkhaus mit dem großen Garten, das Jo als den Glücksgriff ihres Lebens bezeichnete, weil sie es so günstig bekommen hatten. Aber der weite Schulweg ging Wanja auf die Nerven. Vor allem an Tagen wie heute, wo der Bus schon weg war, ihr Fahrrad einen Platten hatte und Jo einen wichtigen Termin.
»Dann musst du eben selbst sehen, wie du zur Schule kommst«, sagte Jo, als Wanja nach zehn Minuten immer noch nicht fertig war. Mit diesen Worten verließ sie Türen knallend das Haus und Wanja blieb nichts anderes übrig, als auf den nächsten Bus zu warten und damit mindestens eine halbe Stunde Verspätung in Kauf zu nehmen. Ausgerechnet bei Deutsch, wo sie heute eigentlich ihre Geschichte hätte vorlesen sollen. Zwei Wochen hatte sie daran gesessen, und wenn sie Pech hatte, würde Frau Gordon sie jetzt von der Liste streichen, streng, wie sie war.
Frau Gordon war Wanjas Klassenlehrerin und unterrichtete Deutsch und Biologie. Sie war so dick, dass sie zwei Schüler hinter ihrem Rücken hätte verstecken können, aber ihre Figur war in all ihrer Fülle so prall und straff und wohlgeformt, dass es niemandem in den Sinn kam, darüber zu lachen. Frau Gordon trug ausschließlich selbst geschneiderte Kostüme mit ausgefallenen Mustern und eleganten Formen, die sich schmeichelnd um ihre Rundungen schmiegten und die jedes für sich ein kleines Kunstwerk waren.
Sie war eine tolle Frau, fand Jo und trotz ihrer Strenge mochte Wanja ihre Klassenlehrerin auch.
»Du kannst von Glück sagen, dass Thorsten seine Geschichte schon fertig hatte«, sagte Frau Gordon, als Wanja zehn Minuten vor Ende der Stunde ins Klassenzimmer huschte. »Montagmorgen um acht ist deine zweite Chance. Aber wenn du dann nicht auf die Sekunde pünktlich bist, wandert deine Geschichte ungelesen mit einer Sechs in den Papierkorb.«
Wanja nickte und setzte sich an ihren Platz. Das war noch mal gut gegangen. Doch dann, in der dritten Stunde, knallte Herr Schönhaupt ihr die Mathearbeit auf den Tisch. Mangelhaft.
»Herzlichen Glückwunsch, Fräulein Walters«, sagte er und zog dabei die Augenbrauen hoch, wie jedes Mal, wenn er eine seiner Schülerinnen vor der Klasse bloßstellte. Dass Wanja zu seinen Lieblingsopfern gehörte, stand schon seit der fünften Klasse außer Frage. »Das ist jetzt das zweite Mangelhaft in diesem Halbjahr. Sagt dir vielleicht das Wort üben etwas?« Herr Schönhaupt trommelte mit den Fingern auf den restlichen Stoß Mathehefte in seinem Arm, während er auf eine Antwort wartete.
»Ja, Herr Schönhaupt.« Wanja stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor. »Eines Tages schneid ich diesem Schmierkopf noch sein Rattenschwänzchen ab«, flüsterte sie Britta zu, nachdem sich Herr Schönhaupt mit einem verächtlichen Schnauben abgewandt hatte, aber sie verstummte sofort, als er sich noch einmal drohend zu ihr umdrehte. Die Frisur des Mathelehrers machte seinem Namen wirklich keine Ehre. Das aschblonde, immer fettige Haar wurde von einem fleischfarbenen Gummiband zu einem dünnen Zöpfchen zusammengehalten, das auf Herrn Schönhaupts Rücken klebte.
»Weißt du noch, das mit der Shampooflasche?«, fragte Wanja, als sie nach der Schule mit Britta nach Hause ging. Wenn sich Wanja über Herrn Schönhaupt ärgerte, rief sie sich diese Geschichte gern in Erinnerung. Thorsten, der Klassenclown, hatte am Anfang des Schuljahrs heimlich eine Flasche Shampoo auf das Lehrerpult gestellt, während Herr Schönhaupt eine Textaufgabe an die Tafel schrieb. Mehr Volumen, für die tägliche Haarwäsche , stand vorne drauf. Als Herr Schönhaupt sich umdrehte, merkte er erst mal gar nicht, was los war. Erst als
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