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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Strout
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Prolog
    Wir redeten oft von den Burgess-Geschwistern, meine Mutter und ich. »Die Burgess-Kinder«, so hießen sie bei ihr. Für gewöhnlich redeten wir am Telefon über sie, weil ich in New York lebte und meine Mutter in Maine. Aber wir sprachen über sie auch, wenn ich zu Besuch kam und im Hotel wohnte. Meine Mutter ging nicht oft ins Hotel, und das war immer etwas ganz Besonderes für uns: in einem Hotelzimmer zu sitzen – die Wände grün mit rosa Rosenborte – und über die Vergangenheit zu reden, darüber, wer aus Shirley Falls weggegangen und wer geblieben war. »Gerade musste ich wieder an die Burgess-Kinder denken«, sagte sie dann und schob den Vorhang zur Seite, um auf die Birken hinauszuschauen.
    Die Burgess-Kinder beschäftigten sie vor allem deshalb so, glaube ich, weil alle drei am Pranger gestanden hatten; dazu kam, dass meine Mutter sie vor Jahren als Viertklässler in der Sonntagsschule unterrichtet hatte. Die Jungen waren ihr lieber. Jim, weil er schon damals diesen Zorn in sich hatte, den er aber im Zaum hielt, und Bob, weil er so gutherzig war. Für Susan hatte sie nicht viel übrig. »Aber das ging allen so.«
    »Als kleines Mädchen war sie sehr hübsch«, erinnerte ich mich. »Mit ihren Locken und den großen Kulleraugen.«
    »Und dann hat sie diesen gestörten Sohn bekommen.«
    »Traurig«, sagte ich.
    »Vieles im Leben ist traurig«, sagte sie. Meine Mutter und ich waren da schon beide verwitwet, und der Feststellung folgte regelmäßig ein Schweigen. Dann fügte meist eine von uns hinzu, wie sehr es uns freute, dass Bob Burgess am Ende doch eine nette Frau gefunden hatte. Die Frau, Bobs zweite und, so hofften wir, letzte, war eine unitarische Pastorin. Meine Mutter hielt nicht viel von den Unitariern; für sie waren es Atheisten, die trotzdem Weihnachten feiern wollten, aber Margaret Estaver stammte aus Maine, das machte es wieder wett. »Schließlich hätte es auch eine New Yorkerin werden können, so lange, wie Bob da gewohnt hat. Denk nur an Jim mit seiner hochnäsigen Miss aus Connecticut«, sagte meine Mutter.
    Denn Jim war natürlich schon immer Thema zwischen uns gewesen – Jim, der nach seiner Zeit bei der Generalstaatsanwaltschaft aus Maine weggegangen war, Jim, den wir schon alle als Gouverneur gesehen hatten, aber dann hatte er aus irgendeinem Grund doch nicht kandidiert –, und erst recht redeten wir über ihn in dem Jahr, als der Prozess gegen Wally Packer lief und Jim jeden Abend in den Nachrichten zu sehen war. Der Packer-Prozess wurde als einer der ersten im Fernsehen übertragen; ein knappes Jahr später sollte ihn O.J. Simpson aus dem Gedächtnis der Mehrheit verdrängen, aber damals schauten Jim-Burgess-Fans landesweit voller Faszination zu, wie er einen Freispruch für den rehäugigen Soulsänger Wally Packer erwirkte, dessen schmelzende Stimme ( Take this burden from me, the burden of my love ) so viele aus unserer Generation ins Erwachsenenalter begleitet hatte. Wally Packer, dem vorgeworfen wurde, den Mord an seiner weißen Freundin in Auftrag gegeben zu haben. Jim beließ den Prozess in Hartford, wo die Hautfarbe eine entscheidende Rolle spielte, und seine Auswahl der Geschworenen, das sagten alle, war brillant. Dann legte er wortgewaltig und mit gnadenloser Geduld dar, wie brüchig das Gewebe sein konnte, das die beiden Komponenten kriminellen Handelns, Vorsatz und Durchführung, miteinander verknüpfte – oder in diesem Fall, so er, eben nicht verknüpfte. In den großen Zeitschriften erschienen sogar Cartoons darüber; bei einem starrte eine Frau auf ihr chaotisches Wohnzimmer, und darunter stand: »Ich hatte mir doch so doll gewünscht, dass es hier ordentlich wird!« Den Umfragen zufolge glaubten die meisten so wenig an Wally Packers Unschuld wie meine Mutter und ich. Aber Jim machte seine Sache großartig und wurde dadurch berühmt. (Ein paar Magazine wählten ihn unter die Sexiest Men of 1993 , und selbst meine Mutter, der jede Erwähnung von Sex ein Gräuel war, lastete es ihm nicht an.) Angeblich fragte O.J. Simpson ihn für sein »Dream-Team« an, was in den Medien kurzzeitig für Wirbel sorgte, bevor ohne Kommentar aus dem Burgess-Lager das Fazit gezogen wurde, dass Jim sich »auf seinen Lorbeeren« ausruhe. Der Packer-Prozess hatte mir und meiner Mutter zu einer Zeit Gesprächsstoff geliefert, als zwischen uns nicht alles zum Besten stand. Aber das war Vergangenheit. Wenn ich jetzt aus Maine wegfuhr, küsste ich meine Mutter zum Abschied und sagte
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