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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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Strafraum und Elfmeterpunkt. Sinn für sportliche Fairneß haben diese Engländer, das muß man ihnen lassen.
    Jemand tippte Herbert Winkler auf die Schulter, schon zum zweiten Mal, das erste Mal hatte er nicht reagiert, nur mühsam fand er sich in der Gegenwart wieder: Es ist der plattfüßige Ober, er will wissen, ob der Herr Gast noch etwas trinkt. »Noch ein Viertel.« Er sieht auf die Uhr, dreizehn Uhr dreißig. Die Gastarbeiter spielen immer noch Karten. Die Billardbälle klicken im Nebenzimmer. Das neue Viertel kommt. Herbert dachte wieder an Bill und wie notwendig er ihn jetzt brauchen würde. Fang von vorne an, sagte Bill immer, wenn ein Problem zu lösen war, ganz von vorne. Und wenn er getrunken hatte, zitierte er Goethe: Zuerst mein Freund, ich rat Dir drum, zuerst Collegium logicum. Oder so ähnlich. Herbert verstand das nicht wörtlich, aber sinngemäß. Und er war gerade dabei herauszufinden, wie und wann alles begonnen hatte. Kein Zweifel, damals in Oedequart, zwischen den Latrinen am ehemaligen Fußballplatz.
    Damals hatte alles begonnen, bei seinem ersten Zusammentreffen mit Bill.
    Niemand lagerte also näher als zwei Meter von der dürftig zugeschütteten Latrine. Verständlich. Neuankommende schauten verwundert, irritiert und wurden aufgeklärt. Sie zwängten sich zwischen die Gruppen, der Platz wurde eng. Ein Lastwagen am Lagertor spuckte etwa zwanzig weitere Kriegsgefangene zum Checkpoint. Nichts Außergewöhnliches, nur hatten diese Männer braune Uniformen an, unterschieden sich von dem Feldgrau der anderen Soldaten. Braune Uniformen. Nichts Schlimmes, nicht etwa SA- oder Parteibonzen, die trugen nicht mehr braun im Jahre 1945; es war eher eine traurige Gruppe der ehemaligen »OT« (Organisation Todt), also Leute aus dem Baufach oder der Industrie, und durchweg ältere Jahrgänge, die Mühe hatten, von dem Lastwagen herunterzukommen. Der Kommandant dieser müden, braunen Gruppe war im Gegensatz zu seinen Männern wesentlich jünger, höchstens dreißig, ein forscher Junge im Vergleich zu den anderen zumindest Fünfzigern, zwar im Braun der OT, aber doch noch widerstandsfähig genug, um eine Kriegsgefangenschaft durchzustehen.
    »Mir nach, Kameraden!« rief der forsche Jüngere und steuerte zielsicher auf den freien Platz zwischen kleinem Strafraum und Elfmeterpunkt zu. Die anderen Braunen waren sichtlich gewöhnt zu gehorchen und trotteten langsam nach.
    Der junge Forsche war klein, aber gut genährt. Einen Augenblick dachte der Gefreite Herbert Winkler, der Kleine muß wohl einen gesundheitlichen Schaden haben, sonst wäre es nicht möglich gewesen, daß er seine KV (Kriegsverwendung) in all den Jahren in eine GVH (Garnisonsverwendung – Heimat) umgewandelt hatte. Wie sonst käme ein so junger Knilch zur OT? Nun, der junge, braune Knilch marschierte geradewegs auf den ominösen leeren Platz zu, als ob die Engländer diesen Platz speziell für die Kriegsgefangenen der OT reserviert hätten.
    »Mir nach, Kameraden!« hörte der ehemalige Gefreite Winkler den kleinen Braunen noch rufen, lauernde Augenpaare beobachteten ihn. Noch zehn Schritte, noch fünf, noch zwei, niemand rührte eine Hand, kein Ruf ertönte. Dann stand der Kleine, wie zu erwarten, plötzlich bis zu den Brusttaschen in der Scheiße, gemildert durch eine dünne Schicht Chlorkalk und zwanzig Zentimeter Erde. Etwa fünftausend graue Figuren brüllten vor Lachen! So gemein kann der Mensch sein. Etwa fünftausend ausgemergelte, graue Kriegsgefangene lachten, zum ersten Male seit vielen Wochen. Es war ein böses Lachen, aber zugleich herzlich.
    Das war die Minute, in der der Funkgefreite Herbert Winkler den Infanteriegefreiten Wilhelm Weiss traf. Das also war der Anfang, damals hatte es begonnen.
    Herbert Winkler kniete sich zur nächsten Gruppe, sagte sein Sprüchlein auf: »Was ist, Kameraden, ich haue ab von hier, kommt jemand mit?« Niemand hörte auf ihn. Einige lachten noch über den kleinen Eifrigen, ein paar diskutierten, ob man ihn hätte warnen sollen. Einer wandte sich zu Winkler und sagte zerstreut: »Hau ab, du bist ja verrückt.« Einer sagte gutmütig: »Da war gerade noch so’n Verrückter hier, der will auch stiftengehn. Dort, der Lange dort«, er deutete in Richtung Fußballtor, wo die neue Latrine war. Herbert Winkler sah eine lange, magere Gestalt, die sich gebückt mit jemandem unterhielt, sich dann aufrichtete und weiterging. Zwanzig Sekunden später war er hinter ihm, tippte ihn auf die Schulter. Herbert
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