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Virus (German Edition)

Virus (German Edition)

Titel: Virus (German Edition)
Autoren: Kristian Isringhaus
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Prolog
    Der Mann kniete vor dem Altar im Chor
der wunderschönen Klosterkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert. Außer ihm
befand sich niemand in dem Gebäude, obwohl das Kloster heutzutage von einem
Diakoniewerk genutzt und dementsprechend frequentiert wurde. Gott hatte ihm
eine Privataudienz gewährt.
    Die Augen geschlossen, hielt er
die Hände zum Gebet gefaltet und den Kopf in Demut gesenkt. Seine Lippen
bewegten sich kaum, seine Stimme war monoton und die Worte, die er sprach,
glichen einem ruhigen und gleichmäßig dahinfließenden Strom.
    „Herr, die Zeit ist nah, und so
frage ich dich erneut: Ist es wirklich dein Wille? Du hast mich zur Erde
gesandt, von deinem Altar, die Menschen zu strafen. Ich habe gelobt, dir zu
dienen, selbst wenn dein Auftrag gegen die Gebote verstößt, die du Moses am
Berge Sinai übergeben hast. Ein letztes Mal frage ich dich: Ist dein Wille
endgültig?“
    Der Kopf des Mannes begann zu
kreisen wie fremdgesteuert. Plötzlich wandte er die geschlossenen Augen so jäh
gen Himmel, drehte sie so kraftvoll in die Stirn, dass der Muskelreflex ihm die
Lider aufriss und von Äderchen durchsetzte weiße Augäpfel offenbarte. Er begann
heftiger zu atmen und Schweiß trat ihm aus den Poren.
    Dann sackte er in seine devote
Haltung zurück und nahm, wenn auch ein wenig schwerer atmend, seine monotone
Prosodie wieder auf.
    „Ich habe deinen Willen erhört“,
sagte er matt. „Herr, gib mir die Kraft. Wenn es vollbracht ist, werde ich
zurückkehren an deinen Tempel, um dir zu huldigen.”
    Wie aus einer Trance erwachend,
öffnete er blinzelnd die Augen und erhob sich langsam, den Kopf nach wie vor in
Ehrfurcht gesenkt. Mit weiterhin gefalteten Händen verließ er die Klosterkirche
Dobbertin. Vor der Tür blickte er sich um, sah eine Nonne, die still durch den
Park ging, grüßte sie höflich und verwickelte sie in ein kurzes Gespräch über die
Historie des Gebäudes. Anschließend begab er sich zum Empfang des
Diakoniewerks, wo er einen Scheck mit einer großzügigen Spende abgab. Es konnte
unter Umständen später noch von Bedeutung sein, dass man sich an seinen Besuch
hier erinnerte.
    Dann ließ er sich ein Taxi rufen.
Er hatte noch zu tun.

Dienstag,
8. Mai 2007
     
    1.
    Dr. Deborah Ashcroft war in Eile
– wie immer, wenn ihr Boss einen Vortrag hielt. Daran änderte auch ihr eigener
beruflicher Erfolg nichts. Für ihre jungen zweiunddreißig Jahre waren ihre
Forschungen im Bereich der Virologie bereits überaus fortgeschritten und
gewannen zunehmend auch international Anerkennung, doch wenn der berühmte
Epidemiologe Professor Tu Meng Hong einen Vortrag hielt, dann war sie wieder
seine kleine Assistentin, sein Mädchen für alles.
    Bei reibungslosem Ablauf erlaubte
er ihr, sich kurz mit ihm in seinem Ruhm zu sonnen. Wenn zu dem guten Ablauf
auch noch gute Laune bei Meng Hong kam, erwähnte er sogar kurz ihren Namen und
ihre Arbeit. Lief hingegen auch nur das kleinste Detail schief, so sprach er
eine Woche nicht mit ihr und überhäufte sie im Institut mit Aufgaben, um sie
von ihren eigenen Forschungen abzuhalten.
    Zwar handelte es sich bei ihrer
Arbeit um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem sie als Virologin
mit dem Epidemiologen zusammen – und nicht für ihn – arbeiten sollte, doch das
schien sich mit Meng Hongs Selbstverständnis schwer zu vertragen.
    Zudem war ein gutes Gelingen nie
so wichtig gewesen wie heute. Vor einem illustreren Publikum hatte der
Professor lange nicht gesprochen. Nicht nur die absolute Weltelite aus
Virologen und Epidemiologen würde zugegen sein, auch die Regierungschefs der
acht selbsterklärten größten Wirtschaftsmächte dieser Erde würden dem Vortrag
beiwohnen. Immerhin war dies nicht irgendein Kongress, sondern der G8-Gipfel.
    Meng Hongs Einsatz war es hauptsächlich
zu verdanken, dass die weltweite Gefahr von Epidemien zu einem der Hauptthemen
des Gipfels erklärt worden war. Seit der großen weltweiten SARS-Epidemie von
2003 hatte er dafür gekämpft. Jederzeit konnte ein noch gefährlicherer Virus
auftauchen – mit ein wenig Pech sogar einer, dem die Menschheit nicht gewachsen
war. Man musste Notfallpläne ausarbeiten und zwar auf internationaler Ebene.
    Debbie vermutete allerdings, dass
die Rettung der Menschheit nicht Meng Hongs primäres Ziel war. Sie kannte ihn
gut und wusste ob seiner Eitelkeit. Die Vermutung lag nahe, dass die
Vorstellung, vor den mächtigsten Menschen der Welt zu sprechen, die
wahrscheinlichere Triebfeder des
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