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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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als er über die Straße ging, der Wind pfiff feindselig an diesem Novembertag, und für Regen war es offensichtlich zu kalt. Im Treppenhaus steckte er sich eine Zigarette an, ging langsam die Stiegen hinauf, ohne Eile.
    Das Vorzimmer war dunkel, und er knipste das Licht an. Mit einem Blick sah er, daß es hier für ihn kein Abendessen geben würde. Ihre Schuhe und ihr Kleid lagen auf dem Boden, die Küchentüre stand offen, und er konnte Berge schmutzigen Geschirrs sehen, wie schon am Morgen, als er die Wohnung verlassen hatte.
    Neben dem Telefon stand ein Aschenbecher, randvoll, das war die einzige Veränderung seit heute morgen, soweit er feststellen konnte. Die Asche seiner Zigarette fiel auf den Fußboden, aber das war auch schon egal in diesem Saustall. Ein wenig zögernd öffnete er die Schlafzimmertüre, sie war nur angelehnt, und stieß sie leicht mit der Schulter auf, die Hände in den Taschen, als ob er Angst hätte, sich schmutzig zu machen.
    Joan lag auf dem Bett, in Unterwäsche und Strümpfen. Sie schlief, den Mund halb offen. Bill kannte seine Frau. Nicht einmal eine Bombe hätte sie jetzt wecken können. Sie war von der Wohnungstür geradewegs zum Bett getorkelt, hatte nur Schuhe und Kleid abgestreift, betrunken bis zur Bewußtlosigkeit. Er kannte Joan, für die nächsten acht Stunden war sie »weg«.
    Es hätte schlimmer kommen können, wäre sie schon im Treppenhaus oder gar auf der Straße umgekippt, man hätte die Polizei oder die Rettung rufen müssen; gute Menschen hätten es getan, wenn sie sie in diesem Zustand gefunden hätten. Und es hätte auch ganz schlimm ausgehen können. Wenn Joan ihre Saufperiode hatte, war alles drin. Und alles war schon dagewesen!
    Bill schaltete das Licht aus und verließ seine Wohnung. Er ging geradwegs zu »Jacks Pizzahouse«.
    Giacomo Morelli, jetzt nannten ihn alle »Pizza-Jack«, freute sich wie immer, wenn er Bill sah, und winkte ihn in eine Ecke, wo ein leerer Tisch stand. Bill ließ sich in einen Sessel fallen, und Jack lächelte sein freundliches Italienerlächeln, seine Zähne blinkten weiß hinter dem Schnurrbart. Wie immer Signore, dabei wischte er mit seiner fleckigen Schürze die Tischplatte ab. Sie war immer noch sauberer, mußte Bill denken, als seine Wohnung. Die Ravioli waren gut wie immer, Bill schlang die Bissen gierig hinunter und trank kräftig vom Chianti. Die Zeiten waren vorbei, als er sich täglich auf die Waage stellte, um sein Gewicht zu prüfen. Schon jahrelang war ihm seine äußere Erscheinung gleichgültig, und das sah man ihm an. Mit der zweiten Flasche Chianti kam ein wenig Farbe in sein fahles Gesicht. Er rauchte wieder und starrte auf die Espressomaschine. Hinter der »Gaggia« werkte Signora Morelli, vollbusig, schwarz, Schweißflecken unter den Armen. Es war viel zu tun. Im Lokal war es stickig heiß. Signora Morelli hätte ungehalten sein können, weil dieser Gast sie so anstarrte, aber das war sie nicht. Mit dem Instinkt einer Frau wußte sie, daß sie dieser Mann nicht wirklich ansah, sondern mit seinen Gedanken weit weg war. Außerdem kannte sie Mr. Bill White von gegenüber, der tagsüber Fernsehapparate reparierte und sich abends mit seiner Frau Joan stritt. Manchmal, wenn sie gerade nicht stritten, waren sie beide Gäste im Lokal, aßen Ravioli und tranken Rotwein. Das geschah immer seltener, und jetzt war Mr. White meist allein da und trank bis Mitternacht und starrte auf die »Gaggia« – nicht auf die Signora dahinter. Ein harmloser Gast.
    »Jacks Pizzahouse« war ein guter Laden, diese Italiener verstehen ihr Geschäft. Es lag in einer Art Niemandsland zwischen dem »Bedford-Stuyvesand-Ghetto« und dem Italienerviertel Bushwick. Nach Einbruch der Dunkelheit war die Gegend für ausgedehnte Spaziergänge nicht gerade empfehlenswert. Aber die Mieten waren billig hier, und wer dachte in diesem Viertel schon an Spazierengehen. Die meisten Gäste waren italienischer Abstammung, man konnte es hören. Ein Negerpärchen saß in einer Ecke, beide in Leder, sie im knappen Mini-Rock. Morelli konnte sie nicht rausschmeißen, schließlich zahlten sie und verhielten sich ruhig. Aber natürlich mußten sie dreimal so lange auf die Pizza warten wie die anderen Gäste. Zwei Streifenpolizisten kamen herein, sie waren vom 81. Revier und hatten blaue Gesichter, sicher um sich aufzuwärmen. Signora Morelli machte ihnen guten heißen Kaffee. Sie gingen wieder, ohne zu bezahlen, aber das war hier so üblich. Bill White hatte die dritte
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