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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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Winkler erinnert sich noch heute an dieses Gesicht und die ersten Worte, die gewechselt wurden: »Was ist?« fragte der Lange. Unverkennbarer Dialekt aus Wien, Vorstadt, Floridsdorf oder Favoriten. Sie hatten beide dasselbe Ziel, die Ostmark oder Österreich –, man würde ja sehen. Und sie hatten beide die gleiche Idee, wie aus dem Lager herauszukommen war, denselben Fluchtplan: »Kamerad …«, sagte Herbert … »I has Willi.«
    »Willi«, sagte Herbert, »ich bin Elektriker. Das Problem ist nur der elektrisch geladene Zaun. Die Zuleitung ist dort beim rechten Corner, die zwei Paralleldrähte auf den Holzträgern. Ein Stein mit einem langen Draht, über die Zuleitung geworfen, gibt einen herrlichen Kurzschluß, man tanzt dann gemütlich unter dem Stacheldraht hinaus.« Der Lange, der Willi hieß, grinste aus seinem mageren Gesicht, holte aus seinen Taschen eine Rolle Draht und einen faustgroßen Stein. Was sollte man da noch sagen. Nicht viel, nur etwa: »Der Stein muß so über die Zuleitung geworfen werden, daß der angebundene Draht auf beide Leitungen fällt …«
    »Ich war Handballer«, sagte Willi. Als es dunkel geworden war, stritten sie noch eine Weile, wer werfen sollte. Die Reputation des Handballers gab den Ausschlag. Der Wurf gelang, es blitzte ein bißchen, die Scheinwerfer verloschen und überhaupt jedes Licht. Herbert hörte seinen neuen Freund kichern, und sie gingen zur Outlinie, etwa Strafraumhöhe, dort wo der Stacheldraht am lichtesten war.
    Das war jetzt mehr als dreißig Jahre her. Und damals hatte also alles begonnen. Und jetzt sollte alles zu Ende sein, nur wegen dieser Leiche im Kofferraum? Herbert Winkler bestellte wieder Kaffee, er spürte den Wein. Zwanzig Uhr. In New York war es noch früh am Nachmittag. Keine gute Zeit, jemanden telefonisch zu erreichen. Aber warum sollte er es nicht später probieren, warum sollte er Bill nicht anrufen? Nach zehn Jahren?
    Sie hatten in diesen zehn Jahren kaum ein Dutzend Briefe gewechselt. Aber was stand einem Anruf im Wege? Wenn einer in Schwierigkeiten war, suchte er immer den anderen, den Freund. Warum sollte das jetzt anders sein. Und – Jesus – Herbert war in Schwierigkeiten. Der alte Bill war der einzige, der ihn verstehen könnte. Es war ja nicht so sehr die Leiche, die würde er loswerden, irgendwie. Es war die Situation, in der er sich befand. Es gab immer Feinde, Gegner, aber man kannte sie. Aber jetzt? Man wollte ihn abmurksen, das war klar, und es war reine Notwehr, das mit der Kofferraumleiche, aber Herbert verstand nichts, konnte nichts begreifen: Wer wollte ihn töten und warum? Der Mann bevor er eine Leiche wurde war kein Einzelgänger, sondern Mitglied einer Organisation. Soviel verstand Herbert, nach allem. Ein ungeschicktes Mitglied dieser Organisation allerdings. Das wußte Herbert auch. Sonst hätte Herbert in Rossmaneks Schrebergarten nicht die Zeit gehabt, seine 7.65er aus der Tischlade zu nehmen und zu entsichern. Der Kerl war so ungeschickt, im finsteren Garten einen Blechkübel umzustoßen, trotzdem weiterzugehen und mit der Taschenlampe durch das Hüttenfenster zu leuchten. Die Taschenlampe in einer, eine Pistole in der anderen. Ungeschickt oder arglos, seiner Sache gewiß? Herbert hatte zwanzig Sekunden Zeit gewonnen, seit der Blechkübel umgestürzt war. Und er hockte unter dem Fenster, als der Sportsfreund hineinleuchtete.
    Der Kaffee war einfach großartig. Klare Sache, er würde Bill anrufen. Vielleicht könnten sie sich irgendwo treffen, alles besprechen. Wer weiß, in welcher Lage Bill gerade war, aber Herbert könnte sogar nach New York fliegen, um mit ihm zu reden. Warum nicht? Er dachte an die viertausend Dollar in seinem Versteck. Seinem Spezialversteck. Warum den Notgroschen nicht anfassen, es war eine Notsituation, und das Geld war schließlich dazu da. Die Idee gefiel ihm immer besser.
    Er brauchte jetzt seinen Freund. Er würde ihn anrufen. Vom Hauptpostamt, im 1. Bezirk. Herr Ober, zahlen. Ein paar Stunden würde er noch totschlagen müssen, er könnte ein wenig spazierengehen und dann in eine andere Kneipe. In eine, die bis in die Morgenstunden geöffnet hatte; je später er anrief, desto eher würde er Bill zu Hause erreichen. Die Billardspieler spielten immer noch im Nebenzimmer. Die Gastarbeiter machten eine Kartenspielpause und aßen Würstel. Der Ober schrieb die Rechnung und betrog ihn um dreizehn Schilling. Er war sicher, der leicht besoffene Herr Gast würde es nicht merken. Herbert
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