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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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er von oben nach unten durchzufressen hatte. Er war kein Jurist, aber was konnte das ausmachen, vier Jahre, sechs Jahre oder noch mehr? Was sollte danach kommen? Er war jetzt fünfzig, und in diesem Alter hat man keine Zeit mehr, sich in ein Zuchthaus zu setzen. Wann hatte diese ganze Misere wirklich begonnen, wo war der Anfang? Herbert Winkler trank jetzt Wein, und mit jedem Glas schien ihm die Kellnerin freundlicher. Auch die Flecken an ihrem Rock waren nicht mehr so arg.
    Die ganze Geschichte hatte wahrscheinlich mit Sonja begonnen, als er und Bill endlich ins »Große Geschäft« kamen. Genossin Sonja Tamara Beizin, Sekretärin der Sowjetischen Botschaft Wien. Bill hatte sie umgedreht damals, Bill war in der Form seines Lebens. Sechs Monate hatte er für Sonja gebraucht. Herbert Winkler bestellte ein neues Glas. Nein, das war es nicht. Der Anfang lag viel weiter zurück. Den Anfang machte die Begegnung mit Rossmanek. Hofrat Dr. Rossmanek war damals Chef der Wiener Staatspolizei. Damit hatte wohl alles begonnen.
    Der Wein war gut. Vielleicht war es gar nicht so falsch, sich einmal ordentlich zu betrinken. Oft hatte man dann die besten Ideen.
    Das Klicken der Billardkugeln wirkte beruhigend. Die beiden Gastarbeiter im Sonntagsanzug mischten und verteilten die Karten, als ob sie die nächsten drei Tage nicht aufhören wollten.
    Die Kellnerin kassierte, sie wurde abgelöst. Das nächste Glas Wein servierte ein alter Ober, dem man seinen Beruf deutlich ansah.
    Noch weiter mußte Herbert Winkler zurückdenken, noch viel weiter. Plötzlich war ihm alles klar. Begonnen hatte es, als er seinen Freund zum ersten Male traf; damals in Oedequart, 1945.

 

    II
    Der April des Jahres 1945 war mild, ein Segen für Millionen von Menschen, die im Chaos des Kriegsendes die Straßen Europas bevölkerten. Das große Töten hatte aufgehört. Die Überlebenden einer gräßlich dezimierten Generation irrten zu Millionen durch die Länder. Flüchtlinge, Heimatvertriebene, die Befreiten aus Hitlers Konzentrationslagern, die plötzlich führerlos gewordenen grauen Massen der Großdeutschen Armee. Sie marschierten in alle Richtungen, auf der Suche nach neuen Heimstätten, auf der Suche nach ihren Familien, ihren alten, meist zerstörten Wohnungen, sie marschierten in Kriegsgefangenenlager, in Flüchtlingslager; die große traurige Völkerwanderung des zwanzigsten Jahrhunderts hatte begonnen.
    Es war, als ob der Herrgott Mitleid mit seiner gequälten Schöpfung hatte. Er ließ die Sonne warm scheinen, die Natur aufblühen, wie um zu zeigen, wie ewig und unvergänglich seine Welt ist, Bäume und Sträucher blühten, fassungslos bestaunt von Menschen, die längst keinen Blick mehr für einen Frühling gehabt, und die schon gemeint hatten, das Ende dieses Krieges sei das Ende aller Dinge.
    Oedequart in Hannover, ein Marktflecken, dreitausend Einwohner, zwei Kirchen, ein Gemeindeamt, drei Gasthäuser, eine Polizeistation, ein Sportplatz mit Stacheldraht umzäunt, einige Wachtürme aufgestellt, ein Lager für Kriegsgefangene daraus gemacht. Fünftausend ehemalige deutsche Landser, graue, ausgemergelte Gestalten, hockten und lagen herum und warteten, und es wurden mit jedem Tag mehr.
    Die Versorgung mit Lebensmitteln war notdürftig, ein Schöpfer Suppe, eine Scheibe Brot, die Tagesration. Stundenlanges Anstellen für diese Verpflegung und die Angst, der Suppenkessel könnte leer sein, bevor man dort war.
    Löffel und Kochgeschirr waren die wichtigsten Dinge im Lager.
    Die übliche Vorstellung, wie es in einem Kriegsgefangenenlager auszusehen hat, war völlig unangebracht. Es gab weder Zelte noch Baracken, noch sonstige Unterkünfte, es gab einfach nichts als Stacheldraht rund um einen Fußballplatz. Die hölzernen Fußballtore und markierten Strafraumlinien dieses ehemaligen Sportfeldes waren eine traurige Ironie zur Realität – so bald würde hier ein Schiedsrichter kein Freundschaftsmatch anpfeifen. Resignation war die große, unsichtbare Wolke, die über dem Lager hing. Großdeutschlands tapfere Soldaten waren gedrillt für den Angriff, für die Welteroberung. Aber niemand hatte ihnen je gesagt, wie sie sich im Falle einer Niederlage verhalten sollten. So verhielten sie sich dementsprechend. Sie taten nichts und warteten. Sie warteten auf Befehle. Vergebens.
    Es hatten sich kleine Gruppen und Grüppchen gebildet, kleine Lebensgemeinschaften in diesem Massenelend. Die Landser lagen haufenweise zusammen, größere und kleinere Haufen, und es
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