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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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gab Einzelgänger, die hatten es am schwersten. Der Gefreite Herbert Winkler ging von Gruppe zu Gruppe, hockte sich eine Weile hin, dachte nach und legte sich einen bestimmten Plan zurecht. Er schaute in die Gesichter dieser Menschen, als suchte er einen Freund, einen Vertrauten, einen Bruder. Dann fragte er, immer dasselbe: Was ist Kameraden, ich hau ab, geh’ stiften. Geht jemand mit, ich brauche einen zweiten. Meist bekam er keine Antwort.
    Manchmal hörte er: »Du bist wohl blöde, Mensch. Jetzt noch ‘nen kalten Arsch kriegen? Der Krieg ist aus, schon gehört davon?«
    Das waren die freundlichen Antworten. Manchmal war es schlimmer: »Du willst wohl rasch heim ins neue Österreich, was? Achtunddreißig habt ihr ›Heim ins Reich‹ gebrüllt, wie die Irren. Jetzt seid ihr ja wieder Österreicher. Habt ja den Krieg nicht verloren, was? Hau ab, Ostmarksau.« Das tat weh.
    Es tat weh, weil es stimmte. Herbert Winkler war Österreicher oder Ostmärker, es war damals noch nicht leicht, es zu sagen. Er wollte heim. Es freute ihn, daß es wieder ein Österreich geben sollte, aber zugleich hatte er ein schlechtes Gewissen bei dieser Freude. Fast drei Jahre war er mit diesen Männern marschiert, hatte mit ihnen gesungen, gefroren, gehungert und manchmal auch gekämpft. Nun sollte er es auf einmal besser haben, nicht das Los einer besiegten Nation teilen müssen. Aber es war keine leere Parole, er hatte es selbst im BBC-London gehört: Da war irgendeine Gipfelkonferenz in Jalta, er wußte nicht genau, wo das war, auf der Krim wahrscheinlich, dort hatten die großen Vier ausgehandelt, daß es wieder ein Österreich geben sollte. Na also. Auch Stalin hatte zugestimmt. Das war großartig, aber der Gefreite Winkler kam sich fast wie ein Verräter vor.
    Das stimmte schon, 1938 als Hitler einmarschierte, hatten alle gebrüllt wie die Irren. Herbert Winkler war dabei, aber er war damals vierzehn Jahre alt und überall dabei, wo gebrüllt wurde. Aber ganz stimmte es auch wieder nicht. Sein Pepi-Onkel fluchte auf die Nazis wie verrückt, und die ganze Familie hatte Angst, daß er eingesperrt werden könnte. Die Frau Hornischer vom vierten Stock hatte sich am 13. März umgebracht. Mit Leuchtgas. Sie trugen sie die Stiegen hinunter, und der Winkler Herbertl war dabeigewesen. Ein paar Frauen hatten geweint, und als sie bei der Hausmeistertüre vorbeigingen, hörte man drinnen den alten Sedlacek brüllten: »Das erste Opfer von de Scheißnazi. Und es werd’n no Tausende nachkumma, Millionen, Millionen …« Dann hörte man das Klatschen von Ohrfeigen, Frau Sedlacek drosch wieder einmal ihren Mann – wenn er besoffen war, tat sie das immer – und sie schrie: »Kusch, kusch, willst uns alle in’s Häf’n bringa, kusch!« Alle hatten damals nicht »Heim ins Reich« geschrien. Und warum sollte es auch nicht ein neues Österreich geben? Schon wegen der alten Komischer, die immer ein Zuckerl für den kleinen Herberterl hatte. Und wegen des Pepi-Onkels, den sie ein Jahr später eingesperrt hatten, weil er seinen Reisepaß einem Juden gegeben hatte. Geschenkt, nicht verkauft. Und was war mit dem alten Josef Winkler geschehen, seinem Pepi-Onkel? Erhängt hatte er sich, in seiner Zelle. Einfach aufgehängt, mit seinem Hemd, das er in Streifen gerissen hatte. Warum nur, mußte der Gefreite Winkler denken. Er könnte heute noch leben und seine Freude haben am Leben und am neuen Österreich. Trotzdem war es ein unangenehmes Gefühl, auf einmal etwas Besseres zu sein, als die Kameraden. Etwas Besseres, ein Österreicher. Aber schließlich, war es seine Schuld? Der Gefreite Winkler mit dem Funkabzeichen am Ärmel ging zur nächsten Gruppe hockte sich zu den Kameraden. Der Platz zwischen den einzelnen Gruppen wurde immer enger, immer mehr ehemalige Landser wurden auf dieses ehemalige Fußballfeld gebracht. Die Gruppen rückten zusammen, und die Suppenportionen wurden kleiner. Dort bei dem Fußballtor, das dem Eingang am nächsten war, etwa zwischen kleinem Strafraum und Elfmeterpunkt, war ein freier Platz, ungefähr zehn Meter im Quadrat. Dort lagerte niemand. Mit gutem Grund: Dort war eine provisorische Latrine, die heute morgen, weil voll, zugeschüttet worden war. Vorher hatten die Engländer Chlorkalk zur Verfügung gestellt. Zuerst also vier Säcke Chlorkalk, dann zwanzig Zentimeter Erde, oder noch weniger. Die neue Latrine wurde gleichzeitig neben dem anderen Tor ausgehoben, ein wenig größer und tiefer, aber auch zwischen kleinem
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