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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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Handtasche. »Fünf Dollar im Ausverkauf«; hatte sie so nebenbei erwähnt. Bill wußte, daß das Stück mindestens fünfzig gekostet hatte und im Ausverkauf nicht zu haben war. Aber er sagte nichts.
    Denn das wirklich Schlimme daran war, daß es ihn nicht mehr interessierte. Und jetzt schon gar nicht mehr. Ein seltsames Gefühl kam in ihm auf, wie er es schon lange nicht gehabt hatte. Er wußte endlich, was zu tun war. Er verließ die Wohnung grußlos, so als ob er nur zum nächsten Automaten ginge, um sich Zigaretten zu holen. Er würde zu Toms Garage fahren, seinen Wagen verkaufen, schließlich ein Taxi zum Kennedy Airport nehmen. Und er würde New York, die Staaten und das ganze »American way of life« so verlassen wie seine Wohnung. Grußlos und ohne Bedauern. Es gab absolut nichts, was ihm leid tun mußte.

 

    IV
    Wilhelm Weiss, fünfzig Jahre alt, seit zehn Jahren amerikanischer Staatsbürger und Inhaber eines US-Reisepasses, gültig für alle Staaten der Welt, passierte anstandslos die Zoll- und Paßkontrollen am Flughafen in Rom. Was hätte auch schon sein sollen? Er hatte sich als Tourist deklariert, schließlich war er das auch in einer gewissen Beziehung. Und außerdem war er nur Transit-Reisender. Die nächste Maschine nach Wien ging erst am folgenden Tag, er würde also den Rom-Wien-Expreß nehmen, Schlafwagen, auf die paar Stunden kam es nicht an. Außerdem konnte er mit Herbert telefonieren.
    New York – Rom, Pan American Flugnummer 217, war die nächste Maschine nach Europa gewesen, die Bill am Kennedy Airport buchen konnte. Er hatte nur eineinhalb Stunden Wartezeit. Er wäre auch nach Stockholm oder Madrid geflogen, wenn es eine frühere Maschine nach dorthin gegeben hätte. Hauptsache Europa. Er nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof mit dem Gefühl, nach einer langen Reise endlich wieder daheim zu sein. Das war er auch. Wieder in Europa, in seiner Heimat. Was für ein Fehler war es gewesen, in die Staaten auszuwandern. Was für eine Dummheit. Das war kein Land für ihn. Zehn Jahre seines Lebens hatte er vergeudet. Er hatte nicht gelebt, nur vegetiert. Überhaupt, Herbert und er hätten sich nie trennen dürfen. Zu zweit hatten sie gut gelebt, sich als Partner ideal ergänzt. Allein hatte sich Bill irgendwie immer nur als halber Mensch gefühlt. Er freute sich auf Herbert. Jetzt würde alles anders werden. »Zu zweit sind wir unschlagbar«, hatten sie früher immer gesagt.
    Der Zug fuhr erst drei Stunden später, Bill ging in die Stadt, suchte die Via Veneto und überlegte, wann er zum letzten Mal hiergewesen war. Er kam nicht drauf. In einem Ristorante bestellte er Ravioli, dachte einen Augenblick an »Jacks Pizzahouse«, verdrängte aber den Gedanken gleich wieder.
    Seine Umgebung musternd wurde ihm bewußt, daß er in Bluejeans und Lederjacke ziemlich schäbig gekleidet war, für einen Mann seines Alters. In Brooklyn kümmerte sich niemand um solche Äußerlichkeiten. Na, in Wien würde er sich erst einmal ordentlich einkleiden. Von Rom nach Wien konnte man durchwählen, auch das war neu für ihn, er versuchte es, aber in Herberts Wohnung meldete sich niemand. Morgen also würde er Herbert wiedersehen. Er konnte es vielleicht im Bahnhof noch einmal probieren, bevor der Zug abfuhr. Herbert freute sich sicherlich. Good old Herby. Was immer er für Schwierigkeiten hatte, es wäre ja lächerlich, wenn sie zu zweit keinen Ausweg fänden. Lächerlich. Bill war optimistisch und freudig erregt, der Chianti schmeckte, und es war einfach umwerfend, wieder in Europa zu sein. Nach den Ravioli bestellte er Formaggio und dann noch einen Espresso. Er hatte es ziemlich eilig, zum Bahnhof zu kommen, und nahm ein Taxi. Es dauerte auch eine Weile, bis er seine Koffer von der Gepäckaufbewahrung bekam, dann mußte er noch Zigaretten kaufen und einige Zeitungen – zum Telefonieren war es damit für heute zu spät. Auch kein Malheur, morgen in Wien würde er Herbert anrufen, die Überraschung war dann noch größer, und Bill versuchte, sich das Gesicht seines Freundes vorzustellen, was ihm ganz gut gelang.
    Er saß allein im Abteil und rauchte. Das rhythmische Rattern des Zuges war wie Musik, »ich komme, Freund, ich komme, Freund« trommelten die Räder des Zuges. Ein Trommelwirbel, für Bill hundertmal faszinierender als in der heißesten Jazzband in Brooklyn. »Ich komme, Freund.« Bill dachte an seinen Freund und die gemeinsame Vergangenheit.
    Gleich nach dem Krieg waren sie das geworden, was Zeitungen schlechthin
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