Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
Vom Netzwerk:
als »Geheimagenten« bezeichnen. Bill hatte diesen Ausdruck nie gemocht, er fand ihn unzutreffend. Auch ein Journalist recherchiert mit allen möglichen Tricks und ist in der Auswahl seiner Methoden nicht sehr wählerisch. Dann wird das Ergebnis seiner Geschicklichkeit oder seiner unmoralischen Tricks, in anderen Worten seiner Gaunereien, auch noch gedruckt – und die Öffentlichkeit ist begeistert. Bill empfand es damals als Genugtuung, daß seine Informationen nicht gedruckt wurden. Das war zu einer Zeit, als er die Materie des geheimen Nachrichtendienstes als etwas durchaus Ethisches, Vernünftiges und Notwendiges empfand. Die richtigen Männer richtig zu informieren, das war doch positiv und gut. Einen Staat, eine politische Partei, jede menschliche Gemeinschaft einer gewissen Größenordnung zu führen, zu lenken, war sicher überaus schwierig und hing seiner Meinung nach doch wesentlich von dem Bild ab, das sich politische Führer und Regierungen von der realen politischen Situation machten.
    Es kam darauf an, richtig zu informieren. Dann konnten keine Fehlleistungen auftreten, dann tat man das Richtige. Die entscheidenden Männer entschieden richtig. Vergleichbar etwa mit einem Piloten auf Blindflug, der auf die Informationen der Bodenstelle auf Leben und Tod angewiesen war. Denn was sind Staatsmänner anderes als Blindflugpiloten? Sie steuern einen ganzen Staat in eine gewisse Richtung; nur wenn die Navigatoren richtig funktionieren, kann der Mann am Steuer das Staatsschiff unter Kontrolle haben.
    Die Navigatoren, wer sonst könnte das sein in der Politik als die verantwortlichen Leiter der Informationsdienste. Diese Überlegungen gaben ihm damals die Kraft und eine Art Berufsethos. Sie halfen ihm, durch all den Schmutz der Alltagsarbeit zu kommen, alle seine Gemeinheiten, seine üblen Tricks und Gaunereien zu rechtfertigen, sie gewissermaßen einem höheren idealen Ziel unterzuordnen. Er war damals fünfundzwanzig oder dreißig, immerhin, seine selbstgestrickte Moral hielt eine ganze Weile. Erschüttert wurden seine Ansichten erst viel später.
    In Bologna regnete es, und der freundliche Schlafwagenschaffner fragte Bill, ob er noch irgendeinen Wunsch habe.
    Bill hatte, und er erhielt eine Flasche Chianti mit einem Zahnputzglas, etwa um das Sechsfache des Ladenpreises: Der freundliche Schlafwagenschaffner nahm ihm dann auch noch seinen Paß ab, versprach, er werde an der Grenze alles erledigen und müsse ihn dann an der Grenze nicht aus seinem Schlaf wecken. Bill gab ihm noch einmal tausend Lire, sie sagten sich ein paarmal »bona notte«, und dann war Bill wieder allein mit dem Chianti und dem Zahnputzglas.
    Bill trank langsam und versuchte sich zu erinnern, wann er seine ethischen Ansichten über die geheimen Nachrichtendienste revidiert hatte.
    Damals passierten einige Dinge, die ihm zu denken gaben. Es war gar nicht so leicht, sich klar zu erinnern. Immerhin, eines dieser Dinge begann plötzlich vor seinem geistigen Auge zu flimmern, wie ein Stummfilm aus den Anfangsjahren der Kinematographie:
    Da war die Geschichte mit Erich Kilian, der saß in der ersten Bank der sechsten Klasse der Oberschule, Wien 20. Bill, damals Willi Weiss, saß in der vorletzten Bank, neben Franz Kersch, dem Rechtsaußen des Schul-Fußballteams, und in der vorletzten Bank wurde mehr über Fußball geschwätzt als über Latein oder Mathematik. Das war 1942, und Latein war nicht so wichtig, man mußte ohnehin bald zur Wehrmacht, zur Großdeutschen. Kilian hatte kein Leiberl in der Schulauswahl, er streberte Latein und Mathematik wie ein Irrer, während Willi Weiss, Schützenkönig des Teams, präzise Volleyschüsse trainierte, besonders mit dem linken Fuß, seinem schwächeren. Erich Kilian war schmalbrüstig, zwinkerte ununterbrochen, und die Mädchen kicherten albern, wenn er vorbeiging. Aber er studierte fanatisch, und das hatte seinen Grund. Sein Vater war Kommunist gewesen und ein Jahr im KZ und dann bei einer Art Bewährungskompanie, und wäre der halbrachitische Erich nicht mit Abstand der beste Schüler gewesen, die Herren Studienräte mit den Parteiabzeichen hätten ihm gern Saures gegeben. Schlimm war es für Kilian in Leibeserziehung, der man damals eine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Im Winter ging es noch, denn an den Geräten im Turnsaal war er gar nicht so übel. Beim Fußball oder Handball wurde er nur so herumgestoßen, aber seine Leistungsnoten lagen gerade noch ein paar Punkte über »Ungenügend«.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher