Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
Vom Netzwerk:
Flasche Chianti und hypnotisierte noch immer die »Gaggia«. Wenn man ihn so ansah, konnte es den Eindruck erwecken, er wäre betrunken und würde mit offenen Augen schlafen, aber das war nicht richtig. Bill dachte nur nach, er hatte eben seine besondere Art nachzudenken.
    Es war schon fast Mitternacht, als Bill seinen Rockkragen hochstellte. Das Zeichen für Signora Morelli zu kassieren. Morelli wünschte eine sehr gute Nacht, und auch die Signora rief ähnliches hinter Bill her. Bill nickte und ging auf die Straße, der kalte Wind fuhr ihm ins Gesicht. War es tatsächlich schon November? Er ging langsam über die Straße, seine Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt.
    Er dachte immer noch nach, dachte über dieselben Dinge nach, über die er die letzten zwei Jahre gegrübelt hatte: War sein Leben noch etwas wert? Sollte er etwas tun, irgend etwas oder weiterhin allem seinen Lauf lassen? In seiner Wohnung war fast alles unverändert. Fast alles nur deshalb, weil Joan nun zugedeckt im Bett lag. Ihre Unterwäsche lag auf dem Boden.
    Bill zündete sich eine Zigarette an und betrachtete eine Weile diese schlafende Frau. Joan haßte es, wenn er im Schlafzimmer rauchte. Das war lächerlich, denn die ganze Wohnung war für seine Begriffe ein einziges Chaos, zumindest 25 Tage im Monat. Und was machte es unter diesen Umständen schon aus, wenn seine Zigarettenasche zu Boden fiel.
    Man müßte die Kraft haben, einfach davonzurennen, dachte er. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß in den USA jährlich elftausend Ehemänner spurlos verschwinden. Er konnte das verstehen. Trotz seiner tristen Situation mußte er grinsen.
    Und da fiel seine Zigarettenasche auf den Boden. Das war in dem Augenblick, als das Telefon läutete. Bill zögerte eine Sekunde; vielleicht war es Joans Liebhaber, der wissen wollte, ob auch alles in Ordnung war. Schließlich hob er ab, sagte »hallo«. Es rauschte in der Leitung.
    Bill sagte noch zweimal »Hallo, Hallo, Hallo«, aber es rauschte nur, knackste leise. Dann sagte eine Frauenstimme »Overseacall, hold the line«. Er sagte noch einmal »hallo« und hörte dann die drei Worte: »Du altes Arschloch.« Bill lachte und spürte, wie ihm die Augen heiß wurden. »Wos is?« sagte er und wußte in dieser Sekunde, daß sich sein Leben, daß sich alles, alles ändern würde. Sein Gehirn arbeitete wie ein Computer, er antwortete mechanisch, dann sagte er: »Ich komme mit der nächsten Maschine.«
    Was für eine Entscheidung von Bill White. Er würde zu seinem Freund nach Wien zurückkehren. Just like that! So hatte es kommen müssen. Bill hatte immer schon an höhere Gewalt geglaubt. »Bist du noch da«, sagte er. Es rauschte stärker.
    »Du kannst auch mit der übernächsten Maschine kommen«, hörte er. Bill kannte seinen Freund. Bill wußte, daß sein Freund jetzt weinte. »Halt die Ohren steif, Alter«, sagte er. Was für eine Lösung all seiner Probleme. Er würde heimfliegen nach Wien, good bye Joan and Brooklyn – mein Leben ist noch nicht zu Ende. Die neuen Colour-TVs soll verkaufen wer will.
    »Three minutes over«, sagte eine Frauenstimme. »Ich wart’ auf dich«, sagte Herbert. »Ich komme«, hörte er sich selber sagen. Bill ging in die Küche, holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte sich an den Küchentisch und fegte mit einer Armbewegung all das schmutzige Geschirr von der Tischplatte. Es krachte und splitterte, aber wen störte das schon in Brooklyn, und Joan wurde sowieso nicht wach. Er trank sein Bier und dachte nach, wie er es am besten anfangen würde. – Im groben wußte er ohnehin schon alles, und er fühlte sich frei und glücklich, zum ersten Mal seit fast zehn Jahren.
    Joan saß in der Küche, in ihrem roten, fleckigen Morgenrock, unfrisiert. Sie hatte eine Schale Tee vor sich, oder das, was sie Tee nannte. Bill konnte den Rum bis ins Vorzimmer riechen. Das Radio hatte sie auf volle Lautstärke gedreht, hot music, natürlich wußte sie, wie sehr Bill diesen Krach haßte. Sie suchte Streit, aber heute morgen würde sie kein Glück haben. Heute nicht, dachte Bill.
    Er rasierte sich in Ruhe. Das Telefon läutete. Joan ging ran und sagte dann kurz: »Falsche Nummer.« Dabei kicherte sie ein wenig. Bill wußte seit Wochen, daß sie einen anderen Mann hatte.
    Er wußte es von Kleinigkeiten. Diese vielen Anrufe mit »falsch verbunden«, die verschiedenen Sachen, die sie sich angeblich kaufte, ohne von ihm Geld zu verlangen, ein neues Kleid, ein Nachthemd, eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher