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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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Hals, um mir einen Blick zuzuwerfen. »Hol mich hier raus!«, sagt sie heiser.
    Oliver wechselt einen Blick mit der Schwarzen. Die kleine Blonde zieht ein Diktiergerät aus ihrer übervollen Brusttasche und murmelt etwas hinein. Es klingt wie »Wahnvorstellungen, typisch nach …«.
    »Lina, du musst dich beruhigen. Ich habe dir Frau Dr. Polliwoda mitgebracht. Sie wird sich mit dir unterhalten, du kannst ihr vertrauen. Alles, was du ihr sagst, fällt unter die ärztliche Schweigepflicht. Sie darf auch uns«, Oliver wirft Mama einen Blick zu, »nichts von dem erzählen, was du ihr anvertraust.«
    »Ruby!« Diesmal klingt es wie ein Stöhnen.
    Ich trete wieder näher an ihr Bett, auch wenn Oliver mich davon abhalten möchte. Lina winkt mich ganz nah zu sich heran, alle starren schweigend zu ihr hin und schließlich lässt mich Oliver doch näher kommen.
    »Ruby«, Lina umklammert meinen Unterarm, »Ruby, der Schenk ist hier.« Sie muss husten.
    »Das kommt davon, dass wir ihr den Magen ausgepumpt haben. Lina, du musst Schmerzen haben.« Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, gibt Oliver der Schwarzen, die er mit Samira anspricht, Anweisungen, eine Infusion zu holen.
    »Ruby …«, beginnt Lina wieder.
    »Du regst sie auf«, mischt sich Mama mit einem Seufzen ein. »Wie immer! Könnt ihr zwei denn nicht einmal friedlich miteinander umgehen? Nicht einmal jetzt?«
    »Sie will mir doch nur etwas sagen«, protestiere ich.
    Lina nickt zustimmend.
    Der dunkelhaarige Alex, der so anders als sein Vater aussieht, dreht sich zu mir um. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, als er von Lina zu mir blickt. »Woher die plötzliche Schwesternliebe?«, erkundigt er sich spöttisch.
    »Alex!« Die Stimme seines Vaters ist scharf.
    Samira kommt mit der Infusion wieder zurück. Oliver macht den Platz am Bett frei, damit sie den Zugang zu Linas Venen freilegen und sie mit der Infusion verbinden kann.
    Lina legt sich zurück auf das Kissen und schließt die Augen.
    »Schenk«, murmelt sie. »Bitte, Ruby, du musst ihn stoppen. Sonst fressen sie die Raben!«
    »Sie ist vom Auspumpen dehydriert«, erklärt Oliver seelenruhig. »Das führt dann zu diesen Halluzinationen.« Er gibt Samira und Dr. Polliwoda durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass sie gehen können, und tritt zu Mama. Er umarmt sie kurz, während er den Kopf schüttelt. »Mach dir keine Gedanken, Katja, sie wird sich wieder erholen. Das hier ist eine einfache Kochsalzlösung, das wird sie wieder auf den Damm bringen. Es ist nichts wirklich Schlimmes passiert.«
    Pa räuspert sich drohend. »Das sehe ich aber anders«, sagt er, während seine Stimme gefährlich zittert. »Wenn eines meiner Kinder nicht mehr leben will, dann muss es einen Grund dafür geben. Was für mich bedeutet, dass sehr wohl etwas wirklich Schlimmes passiert ist.« Seine Stimme wird bei jedem Wort lauter. »Und ich wüsste wirklich gern, was das ist!« Er starrt auf Mama, Oliver und Alex. »Was habt ihr Lina angetan?«, brüllt er schließlich.
    Sein Brüllen bringt Lina dazu, ihre Augen zu öffnen. Sie sucht meinen Blick und schüttelt kaum erkennbar den Kopf, dann fallen ihre Augen wieder zu.
    »Ich kann verstehen, dass du aufgeregt bist, Matthias, aber ich halte es nicht für gut, wenn du hier herumschreist.« Olivers Stimme ist immer noch ruhig und sehr autoritär. »Jetzt solltet ihr nach Hause gehen. Morgen wird sich Lina deutlich besser fühlen, und wenn die Frage nach ihrer psychischen Betreuung geregelt ist, kann sie übermorgen wieder nach Hause.« Er dreht sich zu Mama um. »Katja, du solltest dich hinlegen, die Nacht war sehr lang für dich.« Er schreitet zur Tür, dabei streicht er seinem Sohn über die Haare, was Alex peinlich zu sein scheint, denn er erstarrt und schaut auf den Boden. Dann hält Oliver die Tür auf und bedeutet allen, jetzt aus dem Krankenzimmer zu verschwinden.
    Ich bin die Letzte, die geht. Aber bevor ich das tue, sehe ich noch einmal zu Lina zurück. Ihr Blick ist flehentlich auf mich gerichtet. »Ich komme wieder«, sage ich fest. »Und zwar allein.«
    »Danke, Ruby«, flüstert sie, dann schließt sie die Augen.
    Eine Viertelstunde später sitzen wir in der Küche der neuen Wohnung meiner Mutter. Wobei sie nur für mich neu ist, weil Mam, Oliver und Lina erst nach der Sache mit Merlin im letzten Jahr hierhergezogen sind. Das Haus ist ganz in der Nähe des Krankenhauses, damit Oliver es nicht so weit zur Arbeit hat. Die große renovierte Altbauwohnung hat einen Balkon zum
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