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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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prangen, einen stinkenden Käse, schneidet ihn in kleine Würfel und wirft sich einen nach dem anderen in den Mund. »Willst du auch?«, fragt er mich.
    Lieber sterbe ich, will ich schon sagen, als mir gerade noch rechtzeitig klar wird, wie daneben das gewesen wäre.
    »Irgendwas stinkt …«, sage ich, und erst als Alex anfängt zu lachen, wird mir klar, dass er denkt, ich rede vom Käse.
    »Ich glaube, Lina hatte Angst, heute im Krankenhaus.«
    Alex feuert weitere Würfel in den Rachen. »Klar hatte sie Angst. Vor den Konsequenzen. Jetzt muss sie zu einer Psychotante und sie kann sicher sein, dass eure Mutter sie von nun an gründlich überwachen wird.«
    Eure Mutter. Na wenigstens etwas. Sie war wirklich nicht seine Mutter. Aber damit, dass Mam meine ältere Schwester jetzt nicht mehr aus den Augen lassen wird, hat er vermutlich recht. Was Lina auch klar sein sollte. Als wir klein waren, durften wir als Einzige nie mit zu Schulausflügen oder Klassenfahrten, weil Mam ständig Angst gehabt hatte, uns könnte etwas passieren. Zum Glück hatte sich das nach ihrer Heirat mit Oliver etwas gebessert, vielleicht weil der Arzt war. Trotzdem war sie immer noch davon besessen, dass uns etwas zustoßen könnte, und als ich mit Papa weggezogen bin, war genau das ihre größte Sorge, denn der war ihrer Meinung nach in allem viel zu lässig. Als Lina vor sechs Jahren ins Eis eingebrochen ist, hat sie eine Woche lang nicht mit Pa geredet, weil er es uns gegen ihren Willen erlaubt hatte, auf den See zu gehen.
    Die Stimmen am Küchentisch werden lauter und reißen mich aus meinen Gedanken.
    »Warum hat verdammt noch mal niemand in diesem Haushalt gemerkt, dass es Lina so schlecht geht?« Pa flucht so gut wie nie, außer wenn Dortmund verliert.
    »Du weißt doch, wie verschlossen Teenager sind. Und überhaupt, wo warst du denn?«, brüllt Mam zurück. »Du hast doch die Kinder auseinandergetrieben! Hast du denn vorhin im Krankenhaus nicht gesehen, wie sehr sich Lina nach Ruby gesehnt hat?«
    Alex und ich schauen uns an. Er zuckt mit den Achseln. »Sie gehören dir. Ich gehe jetzt. Ruf mich an, wenn’s was Neues gibt.« Er steckt sich den Rest Käse auf einmal in den Mund, dreht sich um, ruft ein »Tschüss dann!« in Richtung Küchentisch und verlässt die Wohnung, ohne auf Mams »Warte!« zu achten.
    Am liebsten würde ich mit ihm gehen, aber das wäre nicht fair Pa gegenüber.
    Während ich noch überlege, ob ich mich zu meinen Eltern setzen soll, ist ihr Streit schon eskaliert, und Pa springt auf, rot im Gesicht. »Komm, Ruby, wir fahren nach Hause!« Er presst seine Lippen aufeinander und es klingt eher nach einem Zischen. Er muss unglaublich wütend sein.
    »Aber wir wollten doch hier übernachten …«, protestiere ich.
    »Gecancelt. Lina scheint auf dem Weg der Besserung zu sein und deine Mutter ist der Meinung, dass ich nicht wirklich zur Genesung meiner Tochter beitrage. Wir gehen.«
    Mama ist ihm nachgelaufen. »Ruby, du kannst gern hierbleiben, auch wenn dein Vater gehen möchte.«
    Oh Mann, ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits würde ich mich zu gern ein bisschen in Linas Zimmer umschauen und noch einmal mit Alex über Linas Liebeskummer reden. Außerdem habe ich Lina versprochen, sie noch einmal zu besuchen. Andererseits wäre das der pure Verrat Pa gegenüber. Und das kann ich nicht machen, wo er doch eh immer den Kürzeren zieht. Mein Pa ist so ein Typ, viel zu nett für diese Welt.
    »Stimmt es wirklich, dass Lina in drei Tagen wieder nach Hause kommen darf?«, vergewissere ich mich und sehe gleichzeitig ihr völlig verängstigtes Gesicht vor mir.
    »Ja, mein Schatz.« Nachdem Mam gerade so gebrüllt hat, klingt ihre Stimme nun geradezu sülzig. »Oliver ist ganz sicher, dass sie das Schlimmste überstanden hat. Mach dir keine Sorgen.«
    Mein Vater gibt ein undefinierbares Schnauben von sich. »Natürlich machen wir uns Sorgen, Katja! Ruby, du kannst wirklich bleiben. Lina war so froh, als du kamst.« Er schaut mich eindringlich an und ich werde wieder unsicher, wie ich mich entscheiden soll.
    In diesem Moment hört man, wie jemand den Sicherheitscode an der Tür eingibt. Oliver kommt herein. Er sieht müde aus, murmelt »Guten Abend«, wirft Pa und mir nur ein kurzes Nicken hin, stürzt zu Mam wie ein Verdurstender und küsst sie ausgiebig auf den Mund. Wie überaus taktvoll von ihm.
    Okay, ich habe hier nichts verloren. Ich gehöre nicht hierher.
    »Wir wollten gerade gehen, Pa, oder nicht?« Wir
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