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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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voller Sorge um mein Leben. Und manchmal habe ich auch das kurze Aufflackern seines Lächelns in der U-Bahn vor Augen gehabt.
    Und jetzt? Jetzt bin ich einfach nur überwältigt. Er wirkt völlig anders als in meiner Erinnerung, was sicher daran liegt, dass er lässige Jeans trägt und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat, aber da ist noch etwas – ein inneres Strahlen, das vorher nicht da war. Alles an ihm wirkt verändert und ich werde mir plötzlich bewusst, wie ich auf ihn wirken muss. Ich bin noch dünner und extrem blass, mein Schädel ist gerade mal von einem bisschen Flaum bedeckt und über meine Stirn zieht sich eine Narbe, dick und hässlich wie ein Wurm. Aber er scheint das gar nicht zu sehen. Er beginnt zu lächeln, läuft mir schnell entgegen, so als ob er mich umarmen wollte, bleibt dann aber unschlüssig stehen.
    »Meine Gazelle«, murmelt er.
    »Gazelle?«
    »So nenne ich dich, wenn ich von dir träume.« Er lächelt wieder. »Aber Ruby ist auch ein schöner Name.«
    »Du träumst von mir?« Ich versuche einen Witz. »Das können ja nur Albträume sein.«
    »Wie hübsch du ohne diesen Kopfverband bist. Und noch viel besser: Deinen Humor hast du auch schon wiedergefunden.« Er grinst so breit, wie ich es von ihm noch nie gesehen habe, dann wird er wieder ernst und zieht Linas Klapphandy aus der Tasche.
    Ich fühle, wie mir das Blut in die Wangen steigt und in meinen Ohren rauscht. Aber bevor ich mich noch entschuldigen kann, redet er schon. »Es war falsch wegzurennen, ich hätte es dir erklären sollen. Lina hat das Handy Kimoni gegeben, für Notfälle, sie hat sich Sorgen um ihn gemacht. Und Alex wusste, dass ich Kimonis Handy hatte, nachdem er es bei seiner Leiche nicht gefunden hat.«
    »Es tut mit leid, dass ich so misstrauisch war. Bist du nur deshalb hergekommen?«
    »Nein, ich wollte Oliver danken für das, was er für mich getan hat.« Er lächelt mich merkwürdig an.
    »Oh. Ja. Klar.« Ruby, was hast du erwartet? Warum fragst du?
    Jetzt kommt John noch näher und wird wieder ernst.
    »Unsinn, Ruby, dazu hatte ich doch schon lange Gelegenheit. Ich bin nur deinetwegen hier. Ganz allein deinetwegen. Deine Eltern haben dich wie die Löwen bewacht und ich durfte dich nur zweimal kurz im Krankenhaus sehen, aber da warst du nicht bei Bewusstsein. Seitdem vertrösten sie mich Woche um Woche. Sie haben behauptet, du wärst noch zu schwach für so was.«
    »Für so was?« Ich verstehe immer nur Bahnhof.
    John beugt sich zu mir, zieht mich behutsam an sich und küsst dann ganz zart den Flaum auf meinem Kopf.
    Von der Stelle, an der seine Lippen meinen Schädel berühren, laufen warme, kribbelnde Ströme um meinen Kopf, werden zu Gänseschauern auf meinem Rücken und mir wird schwindelig. Ich gerate ins Taumeln.
    John hält mich fester.
    »So was Schönes«, murmele ich, »das hätten sie mir doch schon früher erlauben können.«
    »Finde ich auch.« Johns Umarmung wird ein bisschen lockerer. »Was ist denn das?« Er greift nach dem Lederband mit dem kleinen Schlüssel, das immer noch auf Linas Schreibtisch neben uns liegt, und betrachtet es nachdenklich. »Das hat Kimoni gehört.«
    »Das habe ich mir auch schon gedacht.«
    Er legt mir das Band auf die Hand. »Lies, bitte.«
    »Wende dein Gesicht stets der Sonne zu, dann fallen alle Schatten hinter dich.«
    Als ich wieder hochschaue, blicken seine Augen direkt in meine, durchdringen mich mit ihrer Energie, treiben den Schlag meines Herzens voran und schmelzen die Eiszeit, die sich seit der Sache mit Merlin in meinem Körper breitgemacht hat.
    Ohne seinen Blick von meinem zu lösen, fängt er wieder an zu sprechen. »Sich der Sonne zuzuwenden, ist schwer«, sagt er. »Aber ich glaube, zusammen könnten wir das schaffen, was meinst du?«
    Ich bin glücklich und verwirrt und mir ist so schwindelig, dass ich nur ein »Vielleicht« herausbringe.
    »Vielleicht ist wundervoll, vielleicht ist ein Anfang«, sagt John, zieht mich fest an sich und diesmal küsst er mich ganz kurz auf den Mund.
    Jemand klopft an die Tür. »Das Essen ist fertig.«
    »Gut«, rufe ich etwas außer Atem, »wir kommen gleich.« Und dann gehen wir Hand in Hand in den Flur.
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