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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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Szene zu setzen. Lina liebt theatralische Auftritte. In Linas Welt kreist die Sonne, ach was, nicht nur die Sonne, nein, das ganze Universum dreht sich um sie. Als wir vor drei Jahren gefragt wurden, bei welchem Elternteil wir leben wollten, hat sie im Gerichtssaal eine Tränenshow abgezogen, über der die Richterin völlig vergessen hat, dass ich auch noch da war. Sie hatte schon mit den Schlussworten angefangen, als Pa sich getraut hat nachzufragen, wie denn nun über seine jüngere Tochter Ruby, also mich, entschieden wird.
    Ich wollte nicht bei Mama leben, auf keinen Fall, denn sie war es doch, die unsere Familie zerstört hatte. Sie hatte sich in diesen lächerlichen Typen verliebt, den heiligen Dr. Oliver Brandt, der zu allem Übel auch noch mit einem Sohn gesegnet war. Außerdem tat mir Pa furchtbar leid, er war völlig am Boden und verzweifelt, weil Mama ihn verlassen hatte. Ich dachte irgendwie, ich könnte ihm helfen, darüber hinwegzukommen. Und es gab noch einen Grund, aber den konnte ich mir damals wie heute kaum eingestehen: Ich war froh, endlich Linas Schatten zu entrinnen. Denn ganz egal, was ich anfing oder wen ich kennenlernte, immer funkte meine große Schwester dazwischen und stach mich aus.
    Lina ist nicht so schön wie unsere Mutter, doch sie hat etwas Strahlendes. Sie ist die Orchidee und ich ein Löwenzahn, sie ist der Duft von Rosen und ich der von Rinde, sie ist ein glühender Komet und ich ein grauer Isarkiesel. Kurzum, die meisten Menschen sind verrückt nach ihr.
    Pa setzt sich zu mir auf mein Bett. Er legt seinen Arm um mich. »Ruby, es tut mir sehr leid für dich.« Er drückt mich an sich und ich spüre, wie er zittert. Erst nach einer Weile wird mir klar, dass er krampfhaft versucht, sein Schluchzen zu unterdrücken, und ich schäme mich in Grund und Boden, denn ich fühle nichts.
    Mein Vater weint, weil meine Schwester versucht hat, sich das Leben zu nehmen, während meine Gedanken darum kreisen, dass sie höchstwahrscheinlich bloß eine Show abzieht. Ich sehe nicht nur aus wie ein Isarkiesel, sondern habe auch ein Herz aus Stein.
    »Was ist denn genau passiert?« Ich rücke ein Stückchen von ihm ab, was Pa sofort so interpretiert, dass mir seine Nähe unangenehm ist. Dabei ist mir doch nur meine eigene Gefühllosigkeit peinlich.
    Er strafft die Schultern, putzt seine Brille, dann sehen mich seine grünen Augen prüfend an. »Kleines, sie hat Tabletten genommen und sie mit Alkohol runtergespült. Mehr konnte die Polizei auch nicht sagen.«
    »Die Polizei?«
    »Die kommt immer, wenn jemand versucht, sich umzubringen.«
    »Wieso das denn?«
    »Um sicherzustellen, dass es sich nicht um Mord handelt.«
    Ich sehe meinen Vater verständnislos an. »Aber wer sollte denn Lina ermorden wollen?«
    »Es war ja auch kein Mord. Ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen.«
    Das muss ich erst mal verdauen. Daran, dass die Polizei aufkreuzen würde, hat Lina sicher nicht gedacht.
    »Und wie geht es ihr jetzt?«
    »Den Umständen entsprechend gut, sagt Oliver. Sie wurde auf seine Station im Elisabethenstift nach Schwabing gebracht.«
    »Und was heißt: den Umständen entsprechend?« Ich stehe auf und sehe aus der winzigen Dachluke meines Zimmers auf die zwei Wiesen hinter unserem Haus, auf denen gerade die Butterblumen angefangen haben zu blühen. Ein schmaler mit Schilf bewachsener Bach trennt sie voneinander.
    »Sie lebt.« Pa atmet laut ein, wie um sich selbst Mut zu machen. »Sie lebt und sie wird keine Schäden zurückbehalten. Aber Ruby, wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass so etwas je wieder geschehen kann. Unsere ganze Familie.« Pa nickt sich selbst zu. »Verstehst du? Auch du, mein Schatz. Wir müssen uns darum kümmern, dass es ihr wieder gut geht.«
    Ich drehe mich um. »Gibt es einen Abschiedsbrief?«
    Mein Vater runzelt die Stirn. »Warum fragst du das?«
    »Weil das bei Selbstmördern doch üblich ist, oder nicht?«
    Er zuckt bei dem Wort Selbstmörder zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.
    »Pa, ich kann einfach nicht glauben, dass Lina so etwas tun würde.« Meine Schwester hat doch gar keinen Grund, sich das Leben zu nehmen. Hatte noch nie einen. Eigentlich verhält es sich eher umgekehrt. Sie bringt die anderen an den Abgrund, sogar mit mir hat sie das einmal gemacht. Es ist knapp ein Jahr her, als auch ich nicht weiterleben wollte. Das war, als Lina mir meine erste und bis jetzt einzige große Liebe ausgespannt hatte. Merlin. Wenn meine beste Freundin Feli damals
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