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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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einig, dass das ein cooler Name für einen Bösewicht war. Am liebsten spielte sie, dass mein Schenk ihren Mr Singer verfolgen und töten wollte und sie ihn dann austrickste. Irgendwann wollte ich auch mal der liebe Schenk sein, aber gegen Linas Herrschaft hatte ich keine Chance, obwohl ich tapfer gekämpft habe. Einmal habe ich dabei sogar ein Plüschohr von Mr Singer abgerissen und seitdem ist es leider schief, denn wir haben es nicht geschafft, es wieder richtig anzunähen. Mam hatte sich geweigert und uns zur Strafe gezwungen, es selbst zu erledigen. Wir haben ganz schön gemault, es aber geschafft.
    Und jetzt hat Lina versucht, sich umzubringen. Das ist etwas, das man nicht so leicht reparieren kann.
    Meine große Schwester will nicht mehr leben.
    Die gut gelaunte Lina, die immer fröhlich ist. Der Mensch, mit dem ich den meisten Spaß hatte, jedenfalls bis sie mir Merlin ausgespannt hat. Meine große Schwester, die mich zu allem möglichen Unsinn angestiftet hat, wie zum Beispiel, als wir nachts auf Kreta aus dem Ferienhaus ausgebüxt sind. Wir wollten das Schlüpfen der Babyschildkröten am Strand beobachten, bevor sie dann für den Rest ihres Lebens im Meer verschwinden. Und das gehört für mich immer noch zu den schönsten Sachen, die ich je gesehen habe, aber es hat uns damals mächtigen Ärger eingebracht. Und immer, wenn ich nicht schlafen konnte, ist sie zu mir ins Bett gekommen und hat mir Gruselgeschichten erzählt, bis ich mich alleine nicht mehr aufs Klo getraut habe.
    Lina, Lina, Lina.
    Oh Mann, jetzt weine ich doch.

2. Kapitel
    Das Elisabethenstift in Schwabing ist schon alt und wirkt ziemlich heruntergekommen. Der Linoleumboden ist in der Mitte der Gänge völlig abgelaufen und an den Rändern grau. Es riecht überall nach einer Mischung aus aufgewärmtem Blumenkohl, Sagrotan und Fußcreme.
    Lina liegt nicht mehr auf der Intensivstation, nur noch auf der Intensivbeobachtung, wo man sich keine grünen Kittel anziehen muss.
    Sie ist schon wach, neben ihrem Bett sitzen Mama und unser Stiefbruder Alex. Von Oliver ist nichts zu sehen, vielleicht hat er gerade Schicht.
    Als Lina mich entdeckt, richtet sie sich auf. Sie sieht fürchterlich aus, überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Die tiefen schwarzen Ringe unter den Augen wirken wie Blutergüsse, ihre Lippen sind aufgesprungen und die tote Haut klebt wie alte Weißbrotbrösel darauf. Am Hals hat sie blaue Flecken und ihre schönen blonden Haare pappen strähnig und fettig an ihrem Schädel, der mir plötzlich riesig vorkommt.
    Ich schäme mich in Grund und Boden.
    Das hier ist kein Theater, das hier ist echt. Meine Kehle schnürt sich zu, und je näher ich an ihr Bett komme, desto deutlicher sehe ich, wie verzweifelt Lina ist.
    Ihre Augen starren mich so angsterfüllt an wie damals, als sie in dem kleinen Teich hinter unserer Schule im Eis eingebrochen war und dachte, dass sie sterben müsste. An dem Tag habe ich es geschafft, sie so lange in dem Eisloch festzuhalten, bis Pa da war.
    »Ruby, Ruby!« Sie streckt wie damals ihre Hände nach mir aus, als würde sie ertrinken, wenn ich sie nicht rette.
    Mir schießen Tränen in die Augen. Was ist nur mit mir los, dass ich so gemein über sie gedacht habe? Ich renne die letzen Meter zu ihr hin und setze mich neben sie auf ihr Bett. Sie umarmt mich und flüstert mir etwas ins Ohr, aber ich kann es nicht verstehen, weil ich selbst so laut weinen muss.
    »Schschscht, alles wird wieder gut«, sagt Pa und setzt sich auf die andere Seite des Bettes.
    »Ich will mit Ruby allein sein.« Linas Stimme klingt nicht wie sonst, es ist eher ein Krächzen.
    In diesem Augenblick schwebt Oliver herein. Im weißen Kittel, nur einen Kugelschreiber in der Brusttasche. Den passenden Rahmen geben zwei junge Frauen ab, auch sie im weißen Kittel, die eine schwarzhäutig, groß und schlank, die andere klein, mollig und blond.
    Ich habe nie verstanden, was Mama an Oliver so toll findet. Er ist groß und stakst durch die Gegend wie eine betrunkene Giraffe. Seine blonden Haare, die kaum von seinen abstehenden Ohren ablenken, sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, und seine Nase ist irgendwie zu klein für das große Gesicht. Sein Sohn Alex sieht viel besser aus als er, ein bisschen wie Jack Sparrow ohne Bart, deshalb nenne ich ihn für mich auch nur den Fluch.
    »Hallo, Lina, wie geht es dir jetzt?«, fragt Oliver, schiebt mich von der Bettkante und gruppiert sich mit den Frauen um Lina.
    Lina verrenkt sich fast den
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