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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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Hof und liegt abgeschirmt durch die vordere Häuserreihe ruhig in einem Hinterhof an der Mainzerstraße. Alex ist schon vor über einem Jahr ausgezogen und wohnt in einer Loftwohnung an der Münchner Freiheit, aber er ist nach unserem Besuch im Krankenhaus auch mit hierhergekommen.
    Ich bin immer noch schockiert von Linas Verhalten eben. Was genau hatte sie von mir gewollt? Und warum wollte sie ausgerechnet mit mir sprechen und nicht mit Mama oder Alex, die ihr doch seit der Scheidung vor drei Jahren sehr viel näherstehen?
    Für mich ist ganz klar, dass Lina vor etwas Angst hat. Aber was kann das sein? Sie hat sich schon das Schlimmste angetan, was man sich antun kann: Sie hat versucht, sich umzubringen.
    »Was möchtest du trinken?«, fragt Alex, während Mama einen kompliziert technisch aussehenden silbernen Kaffeeautomaten anschaltet.
    Der Fluch hat dunkles Haar, ganz anders als Oliver, und ist überhaupt sehr viel hübscher als sein Vater. Ich habe mal ein Foto seiner Mutter gesehen, die vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Sie sah aus wie eine französische Chansonsängerin. Die breiten Wangenknochen und die traurigen dunklen Augen muss er von ihr geerbt haben.
    Der Fluch starrt mich so durchdringend an, als müsste er etwas aus mir herausquetschen, was ich unbedingt vor ihm verbergen wollte. »Trinken?«, wiederholt er ungeduldig.
    »Gibt’s Cola?«, frage ich ihn, obwohl mir klar ist, dass es bei Mama und Oliver, den ernährungsbewussten Vegetariern, allerhöchstens Bionade geben wird – etwas anderes kommt ihnen nicht ins Haus.
    Prompt zeigt Alex wortlos auf eine Apfelsaftflasche und macht mir dann, als ich nicke, eine Schorle.
    »Dehydriert.« Mir fällt wieder ein, was Oliver gesagt hat, während ich den Inhalt des Glases gierig herunterschütte. Ausgetrocknet war Lina also und deshalb hat sie angeblich Wahnvorstellungen. »Du gehst doch auf die gleiche Schule wie Lina. Hast du eine Ahnung, warum meine Schwester das getan haben könnte?«
    Der Fluch zuckt mit den Schultern. »Nicht wirklich. Aber ich glaube, dass sie Liebeskummer hatte.«
    »Sie hat also einen Freund?« Leider muss ich sofort an Merlin denken, den sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgespannt hat. Merlin, der Einzige, in den ich je verliebt war. Und das Schlimmste war, dass ich ihn sogar verstehen konnte. Meine Schwester ist einfach so viel lustiger und mutiger als ich und sie hat so viel mehr Kurven als Ruby, die Bohnenstange. Und wen interessiert schon, dass ich was in der Birne habe? Sogar Oma behauptet, dass Männer besser sehen als denken können. Erst in den letzten Monaten habe ich mich manchmal gefragt, warum ich nicht um Merlin gekämpft habe. Ich habe ja nie den Versuch gemacht, ob ich gegen Lina eine Chance gehabt hätte. Und allein deshalb wäre es normalerweise eine unglaubliche Genugtuung für mich gewesen, von Linas Liebeskummer zu erfahren.
    Normalerweise. Aber jetzt ist alles anders. Nachdem ich sie im Krankenhaus gesehen habe, ist all mein Zorn auf sie verschwunden, und sie tut mir nur noch leid.
    Alex hat mir immer noch keine Antwort gegeben, deshalb wiederhole ich meine Frage: »Lina hat also einen Freund?«
    Der Fluch dreht sich zu meinen Eltern um, die sich an den Küchentisch gesetzt haben und in ihre eigene Diskussion verwickelt sind, und flüstert dann: »Nicht so laut, von dem letzten Typen weiß deine Mom gar nichts.«
    »Wieso denn nicht? Lina ist doch schon achtzehn. Sie kann machen, was sie will.«
    »Trotzdem wollte Lina nicht, dass Oliver und ihre Mutter davon erfahren. Ich hab sie mal mit dem Typen gesehen und danach hat sie mich angefleht, es für mich zu behalten.«
    Ich schüttele den Kopf. Das hört sich genauso wenig nach Lina an wie die Tatsache, dass sie Liebeskummer gehabt haben soll. Weder das eine noch das andere passt zu ihr.
    »Ich glaube, er hat sie abserviert. Das ist sie nicht gewohnt.« Alex lächelt ein bisschen gemein, wie Jack Sparrow.
    »Und deshalb wollte sie sterben?« Obwohl – das war tatsächlich etwas, was Lina nicht gewohnt war: dass jemand sie verließ, bevor sie es tun konnte. Dass jemand Nein zu ihr sagte.
    Alex gießt mir Apfelschorle nach und zwinkert mir zu. »Na ja, sie hat eine melodramatische Ader, oder nicht?«
    »Das habe ich zuerst auch gedacht«, erwidere ich nachdenklich. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
    »Wie meinst du das?« Er holt aus dem riesigen roten Kühlschrank, auf dessen Vordertür unzählige Zettel und Fotos
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