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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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VORWORT
    Ein gewisser Simeon Stylites, etwa 390 nach unserer Zeitrechnung geboren, saß siebenunddreißig Jahre auf einer Säule. Von dort schrieb er Briefe und Reden. Bis er am 2. September 459 starb. Heute ist er vergessen und doch in aller Munde. Der asketische Sonderling erfand die »Kolumne« – von lateinisch columna/Säule – und gelangte somit, für immer unsterblich, in unseren Wortschatz.
    Der Mann war klug genug und kam ein halbes Leben lang mit ein, zwei Quadratmetern aus. Dadurch unterscheidet er sich von einem Reporter neuerer Zeiten. Der scheint weniger klug, weniger wissend. Braucht er doch die ganze Erdkugel, um den Stoff zu finden, von dem er anderen erzählen will. Dennoch, das Verzichten, das Sonderliche, das haben der Säulenheilige und die Weltreisenden gemeinsam. Immer stillsitzen und den Kopf nach eigenen Gedanken ausleuchten scheint so anstrengend wie immer den Ranzen zu schnüren und loszujagen. Auf seltsame Weise, so ist zu vermuten, treibt sie dieselbe Sehnsucht: die Sucht nach Leben, nach Intensität, ja die schöne wahnwitzige Idee, etwas zu erfahren vom Vielerlei, vom Allerlei der Welt. Der eine aus der Vogelperspektive in achtzehn Metern Höhe, der andere in Augenhöhe mit allen, die ihm begegnen. »Jeder Mensch ist mein Niveau«, hörte ich einmal einen amerikanischen Schriftsteller sagen. Das ist ein bravouröser Satz, er ist vollkommen wahr.
    Zuerst hieß der Untertitel dieses Buches nicht »Geschichten von unterwegs«, sondern »Anschläge von unterwegs«. Ein kleines Wortspiel. Anschlag als Tippen auf der Tastatur, und Anschlag als Attacke auf andere. Nicht auf ihren Leib und ihr Leben, doch auf ihre Gedanken und ranzigen Gewohnheiten. Ein Buch als Störenfried. Um die Friedhofsstille in unseren Köpfen zu verscheuchen, um uns wieder an den Witz »ewiger Wahrheiten« zu erinnern, um uns einzubläuen, dass uns nichts anderes sicher ist als dieses eine Leben. Wie sagte es Franz Kafka: »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die beißen und stechen.«
    Nun denn, wir anderen Schreiber, die nie Genie waren und nie eins werden, müssen uns bescheiden. So habe ich nur einen Teil von »Sucht nach Leben« mit dem Presslufthammer geschrieben, die andere Hälfte soll verzaubern und – wieder und wieder – vom Reichtum der Welt erzählen. Von den wunderbar wunderlichen Versuchungen und Belohnungen, die sie für jeden Welthungrigen bereithält. Schreiber und Leser als Goldgräber und Schatzjäger. Und die Sprache als Mittler, als Verbündete zwischen allen, die hungern und dürsten. Dabei könnte uns ein zweites Genie beistehen, Miguel Cervantes, der Verfasser des Don Quijote: »Die größte Dummheit scheint, das Leben so zu sehen, wie es ist, und nicht, wie es sein sollte.«
    Noch etwas. Damit kein Missverständnis verstört. Der Autor ist keine moralische Anstalt, kein »gutes« Beispiel. Nichts schläfert erfolgreicher ein als Moralpredigten. Weil sie voraussehbar sind, nie überraschen. So schreibe ich zuallererst für mich. Um die eigenen Hohlstellen, Übel und Feigheiten zu entdecken, ja auszuhalten und – wenn irgendwann genug Kraft und Entschlossenheit vorhanden – zu überwinden. Oder zu lernen, die Niederlagen hinzunehmen. Ich schreibe, wie ich lese. Sprache – die eigene oder die fremde – soll mir helfen, nicht aus der Welt zu fallen. Dem Leser, vermute ich mal, ergeht es ähnlich. Auch jenem, der keine Zeile schreibt.
    Als Letztes ein konkretes Beispiel. Jemand erzählte mir, dass Elke Heidenreich sich einst bei Biolek als krebskrank geoutet hatte. Ich reagierte unwirsch, ich mag es nicht, wenn Zeitgenossen ihre Leberzirrhosen, Menstruationskrämpfe oder Metastasen öffentlich, via bunten Abend, ausbreiten. Irgendein Schamgefühl hindert mich daran, solche Beichtstunden aufregend zu finden. Ich erfuhr aber noch, dass Heidenreich einen Grund für ihr Tun angab: sie wolle anderen Mut machen, denen ihr Körper Vergleichbares zumutet. Damit sie nicht einknicken, sondern den Kampf gegen den potentiellen Killer aufnehmen. Das imponierte mir sofort, klang schlüssig und menschennah. Und ich sah die Parallele zwischen jenen, die Bücher schreiben, und jenen, die nach ihnen suchen. Einer erzählt dem anderen von seinen Wunden und Träumen. Das hilft, ich schwöre, allen beiden.

SUCHT NACH LEBEN
    Fahrt von Seoul in den Süden, zum Meer. Der vollbesetzte, leise Bus. Die Koreaner schliefen, waren müde vom Chusok , dem Erntedankfest. Ich blickte hinauf zum
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