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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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das klappt?« Er reicht mir ein Taschentuch.
    »Klar.« Ich putze meine Nase und versuche, mich zu beruhigen. »Was ist mir dir?«
    »Ich übernachte bei Andreas.«
    »Okay.« Andreas ist ein Studienfreund meines Vaters, den ich ganz gut leiden kann. Bei ihm würde ich auch gern wohnen, aber er und seine Familie haben zu wenig Platz in ihrer Dreizimmerwohnung. Außerdem ist mir im Moment herzlich egal, wo ich wohne. Hauptsache, ich kann in der Nähe von Lina bleiben.
    Während ich mit Papa meine Sachen in Mamas Wohnung bringe, schwöre ich mir, dass ich erst dann zurück nach Hause gehe, wenn Lina gesund ist. Bis dahin werde ich alles tun, um ihr zu helfen und sie aus dem Koma wieder rauszuholen. Und ich meine wirklich und ohne jede Einschränkung, alles.

4. Kapitel
    Seit drei Tagen lebe ich jetzt in Linas Zimmer. Seit drei Tagen ist ihr Zustand unverändert. Pa wohnt immer noch bei Andreas und vermutlich wird das erst einmal so bleiben. Mama hat ihm angeboten, dass er in einem Nebenzimmer ihrer Zahnarztpraxis übernachten kann, aber das wollte er nicht und ich kann das gut verstehen. Wer möchte schon mit diesem fiesen Geruch nach Betäubungsspritzen, Desinfektionsmittel und Schleifstaub einschlafen und wieder aufwachen?
    Mich haben sie in Linas Schule angemeldet, was ich ziemlich überflüssig finde. Ich habe keine Lust darauf, in Linas teure Privatschule zu gehen. Meine Schule im Allgäu ist ein katholisches Mädchengymnasium, weil das nächste gemischte Gymnasium noch weiter weg liegt. Felicitas, die bei mir um die Ecke wohnt, fährt jeden Tag mit mir im Bus. Es ist zwar weit, aber auf dem Hinweg bringen wir meistens unser Hausaufgaben-Sharing zu Ende. Ich erledige Mathe und Physik für uns, sie Deutsch und Englisch. Das klappt prima. Auf dem Rückweg haben wir dann jede Menge Zeit zum Quatschen. Feli ist nicht nur die Einzige, mit der ich wirklich über alles reden kann: von Pa bis Pickeln von Lina bis Liebe und von Mathe bis Merlin. Sie ist auch die Einzige, die mich darüber hinwegtröstet, dass ich in jeder Klasse die Jüngste bin, weil ich in der Grundschule eine Klasse überspringen musste. Am schlimmsten war es damals, als alle anderen Mädchen ihre Tage schon hatten und ich ständig gefragt wurde, ob ich denn auch schon Blut sehen würde. Einen Spitznamen hatte ich auch: Superhirni. Erst war das als Beleidigung gemeint, aber dann haben wir mit meinem Atargatisprojekt bei »Jugend forscht« den zweiten Preis in Biologie gewonnen und seitdem ist es nicht mehr böse gemeint.
    Lina dagegen ist ziemlich mau in der Schule und mogelt sich immer irgendwie durch, genau wie Alex. Der hat schon zwei Ehrenrunden gedreht, deshalb macht er jetzt erst Abi. Er findet es nicht normal, dass mir Mathe Spaß macht und Physik und Bio und Chemie. Lina auch nicht, aber wenigstens hat sie mich nie Superhirni genannt, das muss ich ihr lassen. Sie weiß, dass ich meinen Namen liebe. Ich habe ihn den Rolling Stones zu verdanken. Pa ist Fan und angeblich hat er sich in Mama verliebt, als sie zu dem Song Ruby Tuesday getanzt haben.
    Ich bin sicher, als meine Mutter Oliver kennengelernt hat, wurde nicht getanzt. Viel eher haben sie sich zusammen einen Bericht auf Deutschlandradio Kultur über Mutter Teresa angehört, denn auch Oliver ist ein Heiliger. Er arbeitet jedes Jahr einen Monat für »Ärzte ohne Grenzen«, außerdem hat er eine Praxis für Menschen aufgebaut, die in Deutschland ohne Krankenversicherung leben. Er engagiert sich dort einmal die Woche unentgeltlich und zusätzlich fährt er jeden zweiten Samstag mit einem Bus durch München und versorgt Obdachlose. Seit Mama ihn kennt, ist sie plötzlich auch sozial engagiert, vorher wollte sie bloß viel Geld als Zahnärztin verdienen. Und weil sie beide so wahnsinnig wohltätig sind und keine Zeit haben, müssen Lina und Alex auf diese bescheuerte Ganztages-Privatschule gehen, die in einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik untergebracht ist.
    Heute ist mein erster Schultag in der Schopenhauerschule. Ich habe meinen Eltern erklärt, dass es völliger Schwachsinn ist, mich dorthinzuschicken. Für die Rektorin meiner Schule war es völlig okay, dass ich ein paar Wochen fehle, aber das hat niemanden interessiert. Sie wollen, dass ich tagsüber untergebracht bin und etwas Sinnvolles mache, statt auf dumme Gedanken zu kommen. Sinnvoll? Viel sinnvoller hätte ich es stattdessen gefunden, den ganzen Tag bei Lina zu sein, aber da habe ich auf Granit gebissen.
    Und weil ich es nicht
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