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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen
Autoren: Dean R. Koontz
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Kapitel 1
     

    Der Dienstag war ein typischer Tag für Kalifornien, voller Sonnenschein und Verheißung, bis Harry Lyon beim Mittagessen jemanden erschießen musste.
    Zum Frühstück, das er an seinem Küchentisch einnahm, aß er getoastete englische Muffins mit Zitronenmarmelade und trank dazu einen starken jamaikanischen Kaffee. Eine Prise Zimt gab dem Gebräu einen angenehm würzigen Geschmack.
    Durch das Küchenfenster konnte man den Grüngürtel sehen, der sich durch Los Cabos wand, eine ausufernde Siedlung von Eigentumswohnungen in Irvine. Als Vorsitzender der Eigentümergemeinschaft nahm Harry die Gärtner ganz schön hart ran und überwachte ihre Arbeit streng, damit die Bäume, Sträucher und das Gras immer so ordentlich geschnitten waren wie eine Gartenlandschart im Märchen und es so aussah, als würde das Ganze von unzähligen Gartenzwergen mit Hunderten winziger Heckenscheren in Ordnung gehalten.
    Als Kind hatte er noch mehr Spaß an Märchen als andere Kinder gehabt. In den Welten der Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersens waren die Hügel im Frühling immer makellos grün und samtweich. Und es herrschte Ordnung. Die Bösen wurden stets bestraft und die Guten belohnt - wenn auch manchmal erst nach grauenhaften Leiden. Hansel und Gretel starben nicht im Ofen der Hexe, die Alte wurde selbst bei lebendigem Leib darin gebraten. Rumpelstilzchen bekam nicht, wie geplant, der Königin ihr Kind, und aus Wut riss es sich selbst mitten entzwei.
    Doch das wirkliche Leben im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sah so aus, dass Rumpelstilzchen der Königin ihr Kind wahrscheinlich kriegen würde. Es würde das Mädchen mit Sicherheit heroinabhängig machen, sie als Prostituierte arbeiten lassen ihre Einnahmen kassieren, sie nach Lust und Laune verprügeln sie in Stücke hacken und ungestraft davonkommen, weil es behaupten würde, dass die Intoleranz der Gesellschaft gegenüber übellaunigen und bösartigen Trollen es vorübergehend unzurechnungsfähig gemacht hätte.
    Harry trank den letzten Schluck Kaffee und seufzte. Wie so viele Leute sehnte er sich danach, in einer besseren Welt zu leben.
    Bevor er zur Arbeit ging, spülte er Geschirr und Besteck, trocknete alles ab und räumte es weg. Er konnte es nicht vertragen, Durcheinander und Unordnung vorzufinden, wenn er nach Hause kam.
    Im Flur blieb er kurz vor dem Spiegel neben der Wohnungstür stehen, um den Knoten seiner Krawatte zu richten. Er zog seinen dunkelblauen Blazer über und vergewisserte sich, dass die Waffe in seinem Schulterholster keine verräterische Wölbung bildete.
    Wie an jedem Arbeitstag während der letzten sechs Monate vermied er die verstopften Freeways und fuhr auf den gewohnten Nebenstraßen zum Multi-Agency Law Enforcement Special Projects Center in Laguna Niguel. Die Strecke hatte er ausgetüftelt, um die Fahrzeit auf ein Minimum zu reduzieren. Dabei war er frühestens um 8.15 Uhr und spätestens um 8.28 Uhr im Büro angekommen, aber noch nie zu spät.
    Als er an diesem Dienstag seinen Honda auf dem schattigen Parkplatz auf der Westseite des zweistöckigen Gebäudes abstellte, war es auf der Uhr am Armaturenbrett 8.21 Uhr. Seine Armbanduhr bestätigte das. In der Tat zeigten jetzt alle Uhren in Harrys Eigentumswohnung und die Uhr auf dem Schreibtisch in seinem Büro 8.21 Uhr an. Er stellte alle seine Uhren zweimal die Woche nach.
    Während er neben dem Auto stand, atmete er zur Entspannung mehrmals tief durch. Über Nacht hatte ein Regen die Luft gereinigt. Die Märzsonne gab dem Morgen ein Schimmern, das so golden war wie das Innere eines reifen Pfirsichs.
    Um dem architektonischen Standard von Laguna Niguel zu entsprechen, hatte man das Special Projects Center in einem zweistöckigen, im mediterranen Stil erbauten Gebäude mit einer Säulenhalle untergebracht. Das Ganze war von üppigen Azaleen und hohen Melaleucas mit spitzen Blättern umgeben und hatte somit keinerlei Ähnlichkeit mit den meisten Einrichtungen der Polizei. Einige Polizisten, die im Special Projects arbeiteten, fanden, es mache zu wenig her, aber Harry gefiel es.
    Die Behörden mässige Innenausstattung hatte wenig mit dem malerischen Äußeren gemein. Böden mit blauen Kunststofffliesen. Hellgraue Wände. Schallisolierte Decken. Doch die Atmosphäre von Ordnung und Effizienz war beruhigend.
    Selbst zu dieser frühen Stunde liefen in der Eingangshalle und auf den Fluren schon zahlreiche Menschen herum, größtenteils Männer von kräftiger Statur und mit der
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